Desiderium
Boden, fanden schnell Halt.
Erst als ic h in der Mitte des Raumes stand, bemerkte ich, dass ich überhaupt aufgestanden war.
Emotionslos betrachtete ich mein Spiegelbild. Glatt fielen mir meine Haare über den Rücken. Ausdruckslose Augen blickten mir glasig entgegen. Nur ihre Farbe, das Braun, war noch etwas kräftiger. Es bildete einen starken Kontrast zu dem cremefarbenen Nachthemd, das mamé im vergangenen Sommer für mich gekauft hatte.
Das Rauschen in meinem Kopf wich einem Flüstern. Es war eine der Stimmen, die mir in meinen Träumen versuchten zu helfen. Nicht die meines Vaters, sondern die andere, die ich nicht zuordnen konnte. Und wie in meinen Träumen tat ich, was sie mir sagte.
Die Eingangshalle war in vö llige Dunkelheit getaucht. Ich brauchte kein Licht. Die zweite Tür war nur angelehnt. Ein Scharren durchbrach Stille, als ich sie leicht aufdrückte – sie gab augenblicklich nach.
Kaum gab sie den Raum dahinter frei , begann das Schimmern. Erst schwach, dann immer stärker. Meine Haut begann zu kribbeln, mein Herz zu pochen.
»Ich habe befürchtet, du würdest es nicht lange aushalten.«
3. Familienprobleme biblischen Ausmaßes
Das Leuchten verschwand , ebenso das Rauschen. Zurück blieben nur ich, zwei erleuchtete Kerzenständer und im Sessel: mamé .
Mein Blick wanderte zum Gemälde, als ich eintrat. Etwas in mir wollte, dass sie wieder verschwand; es wollte allein mit dem Gemälde sein.
Mamé hielt an ihrem Monolog fest: »Dein Großvater hat schon länger vermutet, du würdest es sein – auch wenn er mir nie verriet, weshalb. Seine erstgeborene Enkelin. Mathieus älteste Tochter. Ich war mir sicher durch Danielle würde Vivianne stärker sein.«
» Ich verstehe nicht«, sagte ich behutsam. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Ich weiß, mein Kind. Setz dich. Ich werde dir alles erklären!«
Ebenso langsam wie zuvor trat ich näher, setzte mich ihr zögernd gegenüber. Meine Körperhaltung war angespannt, meinen Blick konnte ich nun auf sie richten. »Also?«, fragte ich.
Mamé seufzte leise. Ihr Blick senkte sich. »Wie gut kennst du das alte Testament?«
Das sollte sie selbst genau wissen. Immerhin war sie das weibliche Oberhaupt dieses streng katholischen Haufens. Sie hatte sehr dazu beigetragen, dass ich eine entsprechende Schule besuchte. Von den sonntäglichen Kirchenbesuchen ganz zu schweigen.
»Du hast immer betont, das alte Testament umfasse viele B ücher. Wenn du dich also genauer ausdrücken würdest, könnte ich deine Frage besser beantworten,« Noch musste ich nicht einmal schauspielern, noch kehrte nichts von dem zurück, was mich vorhin, geweckt hatte.
»Genesis. Jakob und seine zwölf Söhne.« Ihre Stimme stockte. Das Sprechen schien sie Überwindung zu kosten.
»Ich nehme an, du spielst auf Joseph an. Ihr habt mir die Geschichte häufiger erzählt.« Wenn auch vereinfacht und kinderfreundlicher.
Sie nickte nur und gebot mir mit einer Geste, fortzufahren.
»Joseph war einer der jüngeren Söhne Jakobs – der zehnte oder elfte, glaube ich. Angeblich soll seine Mutter Jakobs Lieblingsfrau gewesen sein, er somit sein Lieblingssohn. Aus diesem Grund schenkte er ihm beispielsweise ein sehr wertvolles, farbenreiches Gewand, das den Neid seiner Brüder weckte. Des Weiteren, so steht es geschrieben, erzählte er seinen Brüdern und seinem Vater von seinen Träumen, in denen er meist besser dastand als sie. ‚Die Sonne, der Mond und elf Sterne verneigten sich tief vor mir.’ Aus Eifersucht beschlossen seine Brüder, ihn loszuwerden. Nach einigem hin und her, verkauften sie Joseph an eine Gruppe Reisender, die auf dem Weg nach Ägypten waren, und täuschten gegenüber ihrem Vater seinen Tod vor, indem sie sein Gewand in Tierblut tränkten. Dort war er der Sklave eines Hofbeamten, kam jedoch bald wegen Verrats ins Gefängnis. Dort machte er es sich allerdings zu Nutzen, dass er die Träume der übrigen Insassen deuten konnte und nach einiger Zeit wurde der Pharao auf ihn aufmerksam. Als Joseph durch seine Deutungen dafür sorgte, dass sich die Ägypter auf eine siebenjährige Hungersnot vorbereiten konnten, wurde er ein wichtiger Berater des Pharaos und mit Macht und Geschenken belohnt. Eben wegen dieser Hungersnot kam seine Familie mit all ihrem Besitz nach Ägypten. Sie ließen sich dort nieder und nachdem Josephs Vater gestorben war, vertrugen er und seine Brüder sich wieder. Von da an lebte er glücklich bis an sein Lebensende.«
Für meine
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