Desiderium
ideale Erklärung für mein Verhalten in den letzten Jahren.
Ihrem Blick nach hätte sie allerdings auch eine Entführung durch Aliens als Erklärung akzeptiert.
Erst viel später wurde mir bewusst, wie wichtig es war, dass sie mir glaubte – unter den gegebenen Umständen hätte mir nichts Besseres passieren können.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Alice nach dem Essen. Die Idee, gemütlich durch die Stadt zu bummeln und einige Läden reicher zu machen, schien sie verworfen zu haben.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nach Hause kann ich erst einmal nicht. Mein Großvater will unbedingt, dass ich ‚eingefüh rt’ werde´, die andere Welt besuche, eine wahre Auserwählte werde et cetera.«
»Was spricht dagegen?« Alice drückte den Knopf, der einen der vi elen Aufzüge rief. Um uns herum waren nur vereinzelte Menschen – ein weiterer Pinguinkellner, eine hochschwangere Frau und ein älterer Mann mit Bowle auf dem eierförmigen Kopf.
»Ich glaube nicht daran, dass ich das tun muss«, erklärte ich mit einem weiteren Schulterzucken.
Alice schaute mich überrascht an – beinahe überraschter als zu dem Zeitpunkt, als ich die Welt der Sehnsüchte das erste Mal erwähnt hatte. »Aber du hast doch eben noch gesagt, dass du daran glaubst, was deine mamé dir erzählt hat.«
»Das tue ich auch. Aber ich bin nicht einfach nur eine Durands, was offenbar schlimm genug ist, sondern ich habe keine starken Emotionen. Ich werde nicht von Sehnsucht zerfressen, also brauche ich es nicht. Aber mein Großvater scheint darauf zu bestehen . Er gehört zu denen, die alles daran setzen, um ihren Willen durchzusetzen ...«
Der Aufzug kam und fuhr uns ins Erdgeschoss. In der verspi egelten Kabine selbst konnten wir nicht sprechen. Zu viele Menschen drängten sich dicht an dicht aneinander.
Als wir wieder frische Luft schnappen konnten, legte sie eine Hand auf meine Schulter. »Weiß Noemie eigentlich davon?«, fragte sie und lenkte mich die Avenue du Maine entlang.
»Zumindest nicht von meinen Großeltern; sollte sie es irgendwie sonst herausgefunden haben, müsste sie es vor mir verborgen haben. Das ist ihr noch nie gelungen.«
Wir verließen die Hauptstraße, als wir die Treppen der U- Bahn- Stat ion hinabstiegen. Der Autolärm wurde verschluckt, dafür nahm der übelriechende Geruch, der mich an öffentliche Toiletten erinnerte, zu.
»Was wird sie denken, wenn sie mitbekommt, dass du abgehauen bist?«, führte sie anschließend ihren Fragenkatalog fort.
»Nicht allzu viel. Das Verhältnis zu unseren Großeltern war nie sonderlich innig. Sie wird glauben, wir hätten uns gestritten und dass ich in spätestens ein paar Tagen wiederkommen werde ...«
Als die Schienen in Sichtweite kamen, wanderte mein Blick wie von selbst nach links. Ein schwaches Aufflackern erhellte die hinte re Wand, an der sich jemand in giftgrünem Graffiti verewigt hatten. Aber eine Gruppe Männer in Anzügen versperrte mir die Sicht, auf den, der sich nach etwas sehnte.
»Meine Eltern sind bis nächste Woche weg. Wenn du willst, kannst du also die nächste Zeit auf meinem Sofa übernachten.«
Ich wusste, dass ein »Danke« in dieser Situation mehr als angebracht gewesen wäre.
Stattdessen kam mir eine Idee: »Kannst du mir mal kurz dein Handy geben? Ich ruf Noemie an und frag sie, ob sie mir ein paar Sachen bringen kann. Dann nutze ich dich nicht ganz so aus.«
»Machst du dir etwa auf einmal Sorgen um dein Gewissen?«
Ich schenkte ihr ein betont sarkastisches Lächeln. »Ja, natürlich.«
Ich wusste nicht, dass uns an diesem Tag jemand versuchte zu folgen; zuerst in einer schwarzen Limousine, doch dieses Vorhaben musste aufgrund des Verkehrs aufgegeben werden, und dann zu Fuß.
Kaum hatte ich die Villa verlassen, hatte mein Großvater Henry und einen seiner Eingeweihten auf mich angesetzt, um mich zurückzuholen.
Auch das hatte ja so gar nichts Sektenartiges!
Aber an diesem Tag, ließen sie uns in Ruhe.
Ich richtete mich auf dem Sofa in Alice’ Zimmer ein, ließ mir von meiner Schwester das Nötigste an Kleidung, Schulsachen und Geld bringen und überzeugte sie davon, dass ich lediglich eine Auszeit bräuchte.
Die meiste Zeit unterhielt ich mich mit Alice über meine Familie. Sie versuchte etwas im Internet zu recherchieren, was jedoch nicht sonderlich erfolgreich war. Das Interessanteste war ein Eintrag darüber, dass mein Ur- ur- ur- ur- Urgroßvater während der französischen Revolution zum Klerus gehört und auf der Seite des
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