Desiderium
Königs gekämpft hatte. Er war von besonders radikalen Revolutionären geköpft worden.
Der hatte sich wohl zu sehr nach einer alten Ordnung gesehnt!
Zwei Tage später begann mein Großvater alle halbe Stunde auf Alice’ Festnetzanschluss anzurufen, bis Alice das Telefon ausschaltete.
Noemie hatte zwar mein Handy, das mir aufgrund möglicher Notfälle erlaubt war, mitgebracht, aber in weiser Voraussicht hatte ich es gar nicht erst eingeschaltet.
»Es würde mich nicht überraschen, wenn er in einer Stunde vor der Haustür steht.«
»Mich auch nicht«, stimmte ich Alice zu.
Ich kannte pépé oder hatte es zumindest geglaubt. Und so wie er auf diesen Auserwähltenkram versessen war, würde es mich auch nicht wundern, wenn er mich demnächst entführen ließ.
Allerdings gelang es ihm, Alice zu überraschen. Denn er kam nicht.
Und am nächsten Tag waren es nur noch zwölf Anrufe. Dass ich zwölf Anrufe mal für eine gute Leistung halten würde, hätte ich auch nicht gedacht.
» Ihm gehen wohl die Worte aus. Die Nachricht, ‚Cassim, du musst hier das Erbe deiner Familie antreten, weil du sonst noch schneller an deiner Sehnsucht stirbst als ohnehin’, kann man nicht allzu vielseitig verpacken«, meinte ich, als wir am Abend im Wohnzimmer saßen.
Im Fernsehen lief ein altes Konzert von Linkin Park, bei dem Alice gelegentlich mitsummte. Sie traf nicht immer die Töne.
»Vielleicht überlegt er sich einen neuen Plan, dich umzusti mmen.«
»Er könnte noch ein paar Bibelstellen zitieren. Das wäre doch äußerst passend.«
In der Nacht wurde ich in einen Strudel aus Farben gezogen. Ich hatte diesen Traum schon einmal gehabt, nur das die Farben dieses Mal nicht herrenlos waren, sondern zu einem bodenlangen Mantel wurden und sich an mich schmiegten. Nachdem ich mich einige Male um mich selbst gedreht hatte, legte der Mantel sich gänzlich um mich. Ich spürte sein Gewicht schwer auf meinen Schultern, er drückte mich zu Boden. Ich strampelte, um mich zu befreien, keuchte, hustete, versuchte zu protestieren.
Und doch: Als es mir endlich gelang, den Mantel loszuwerden, und zusah, wie er wegflog, griff ich danach. Plötzlich fühlte es sich wie ein Verlust an. Schmerz durchzuckte mich. Ich konnte es nicht ertragen, ohne ihn zu sein.
Pépés Versuch, mich in die Villa zu bekommen, erreichte seinen Höhepunkt, als ich das erste Mal nach den Osterferien wieder in die Schule ging.
Um Punkt zwei Uhr verließen wir das Gelände des collège tanis. Alice bemerkte gerade, dass sie sich jedes Mal vorkam, als würde sie nach einer unverschuldeten Haftstrafe begnadigt werden, als sie mitten im Satz innehielt und auf die gegenüberliegende Straßenseite deutete.
Dort parkte eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben, die mir nur allzu bekannt vorkam. Ich stellte mir vor, wie Henry hinter dem Steuer saß, die faltigen Hände ums Lenkrad geklammert.
Mein Großvater stieg aus und kam auf mich zu. Er gab eine Mischung aus Bitten und später sogar Drohungen von sich, bevor Alice meinen Arm packte und mich wegzog.
Dieses Mal gelang es dem Wagen uns zu folgen. Immerhin kannten sie unser Ziel. Aber noch einmal war der Verkehr unser Vorteil: Wir kamen vor ihnen an der Wohnung an.
»Alice, hol mal Luft. Du siehst aus, als ständest du kurz vor einer P anikattacke«, bemerkte ich.
»Dir kommt wahrscheinli ch die kleinste, etwas heftige Reaktion vor als stände derjenige kurz vor einem Zusammenbruch«, entgegnete sie, beinahe wieder lächelnd. »Kannst du überhaupt noch Filme wie Titanic ertragen?«
Ich seufzte leise, während sie aufschloss. Mit gesenkter Stimme erklärte ich: »Alice, wenn ich sage, da ist nichts, dann ist da nichts. Du könntest mich mit dem größten Psycho- Terror konfrontieren, es würde mir nichts ausmachen.«
»Es sei denn , der Psychoterror kommt von der eigenen Familie und hat bis zu einem gewissen Maß mit Religion zu tun.«
»Das ist kein Psychoterror, das ist eine kaputte Schallplatte. ‚Du brauchst diese Übergänge, es schützt dich’ … Ob ihm mal aufgefallen ist, dass sich der Schutz und das süchtig werden widersprechen?« Während Alice das Essen aufwärmte, holte ich Teller und Besteck. »Aber ich habe bisher nicht eine einzige Sekunde etwas von diesem angeblichen Verlangen gespürt …«
»Du bist ja auch anders …«
»Eine Auserwählte, die die Welt der Sehnsüchte beschützen soll, die jedoch selbst überhaupt keine Sehnsucht verspüren kann. Bestimmt die perfekte
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