Desiderium
kurzen Abstecher auf die nächste Toile tte, um mich frisch zu machen. Ich zitterte, aber das konnte nicht nur an der Temperatur liegen.
Als ich wieder draußen stand und mir der morgendliche Ve rkehr in den Ohren tönte, wusste ich nicht, wohin. Mehrere Minuten lang stand ich unschlüssig auf den Bürgersteig, ließ den Blick schweifen. Dann fiel mein Blick auf ein Schild.
Eine Stunde später b efand ich mich auf dem Tour Montparnasse .
Weil es noch früh war, war kaum jemand auf dem Dach, der 59. Etage. Schwindelerregend weit unter mir, erstreckte sich die Avenue du Maine . Nicht gerade der aller schönste Anblick. Wenn ich mich jedoch an das Geländer gelehnt und meinen Blick wandern gelassen hätte, hätte sich mir einer der besten Ausblicke über ganz Paris geboten. Auch den Eifelturm konnte ich erkennen, den die noch schwache Sonne beschien. Selbst um diese Uhrzeit mussten von dort aus heute schon über 1000 Fotos gemacht worden sein.
Das hässlichste Stück in der Stadt zieht die meisten Touristen an, hatte mein Vater früher immer kopfschüttelnd g esagt. Wie so viele Pariser hatte er zu denjenigen gehört, die die Stahlkonstruktion nie hatte leiden können. Für mich war die Aussicht, den Eiffelturm in der Nähe zu haben bei unserem Umzug eines der wenigen Dinge gewesen, auf die ich mich gefreut hatte.
Unter mir konnte ich gedämpfte Stimme hören, vermutlich aus dem Restaurant auf der anderen Aussichtsetage. Ich hatte überlegt, ob ich nicht dorthin gehen sollte, um etwas zu frühstücken. Aber erstens sah ich aus wie eine Obdachlose und zweitens hatte ich nicht einmal einen Euro dabei.
Zwei Tauben flatterten an mir vorbei und begannen auf dem Boden herumzupicken. Schneeweiße Tiere. Friedenstauben wie in der Bibel. Sehr witzig, dachte ich voller Sarkasmus.
In Gedanken versunken bemerkte ich nicht, wie sich eine der vielen Fahrstuh ltüren hinter mir öffnete.
»Cassim!«
Ich reagierte erst, als die Person neben mir stand.
»Alice, was machst du hier?«, fragte ich to nlos.
Alice Monroe war die Person, die man noch am ehesten als eine Freundin von mir bezeichnen konnte – die einzige.
Sie war das genaue Gegenteil von mir: offen, redefreudig, neugierig und experimentierfreudig, insbesondere wenn es um ihren Stil ging: Ihre Interessen reichten von einer Klassik- Phase über eine Tokio Hotel- Phase, in der sie die Haare schwarz und ein Piercing getragen hatte, bis hin zu einer Disney- Musical- Film- Phase. Aktuell hörte sie das, was gerade im Radio lief, ihr Piercing war verschwunden und ihre Haare waren Blond mit leichten Rotstich und reichten ihr bis zu den Ellebogen.
Nun, in eine Lederjacke und dunkle Jeans gekleidet, setzte sie sich im Schneidersitz neben mich; den Rücken zum Eifelturm hin. »Ich hab dich gesucht. Zu Hause warst du nicht. Ansonsten sind mir nur zwei Orte eingefallen, wo du regelmäßig hingehst: Da ich keine Lust hatte, den halben Friedhof nach dir abzusuchen, hab ich entschieden, hier zuerst nachzuschauen. Es hat gedauert, aber jetzt bin ich ja hier.«
»Und warum hast du mich gesucht?«
Alice lächelte milde. »Wir waren verabredet, wenn ich dich erinnern darf«, erklärte sie. »Wir wollten gemeinsam frühstücken und dann shoppen gehen. Ich wollte dich abholen.«
»Ach ja.« Dumpf erinnerte ich mich, wie ich ihr das versprochen hatte. Nicht weil ich Spaß daran hatte, sondern weil ich gewusst hatte, dass ich sie nicht auch noch vor den Kopf stoßen sollte.
»Also? Was ist? Was hast du da eigentlich an?«
»Ist der neueste Schrei, noch nicht gehört?«, erwiderte ich. »Hör mal, heute ist es etwas … unpassend.«
»Komm schon. Wir können zu dir nach Hause und dann …«
»Ich hatte nicht vor, heute nach Hause zu gehen. Oder was glaubst du, warum ich keine Hose anhabe.«
»Hmm. Da ist was dran. Na gut, dann lade ich dich zum Frühstück ein, anschließend fahren wir zu mir, damit du ein paar Sachen von mir bekommen kannst und heute Nachmittag leeren wir die Kreditkarten. Das Geld kann ich dir leihen.«
Ich lehnte den Kopf gegen die Brüstung. »Wirklich. Ich …«
Alice seufzte leise. »Cassim Durands, erzähl mir endlich, was mit dir los ist!« Bei dem ärgerlichen Unterton ihrer Stimme, blickte ich auf. Wütend blitzten ihre Augen.
»Ich weiß nicht, was du meinst . Es ist einfach nicht mein Tag«, erwiderte ich tonlos wie immer, wenn ich mich nicht verstellte.
»Ach, komm schon.« Sie verdrehte die Augen . »Ich kenne dich, seit du hierher gezogen bist.
Weitere Kostenlose Bücher