Desiderium
tun, tun wir freiwillig.«
Vor Schreck fiel Jaron beinahe hintenüber vom Stuhl. In letzter Seku nde umklammerte er die Tischkante und fand das Gleichgewicht wieder. Idiot , dachte er, während er darauf wartete, dass sein Puls sich wieder beruhigte. Darragh sagte nichts, doch er wusste, dass sein Sturz ihm ein kleines Grinsen entlockt hatte. Andersherum wäre es nicht dasselbe gewesen.
»Ich fürchte, wir brauchen die Samthandschuhe doch«, keuchte er. »Könntest du mir erklären, wie du auf den Unsinn kommst?«
»Vor vielen, vielen Jahren wurde eine Welt erschaffen, in der alles das Produkt von Sehnsüchten der Menschen ist«, sagte er langsam und nach Worten suchend. »Alles, was du bisher in deinem Leben gesehen hast, ist Bestandteil dieser Welt. Du selbst bist genau wie ich oder Lilli oder sonst eine Person eine menschlich aussehende Sehnsucht. Wir existieren, weil andere, richtige Menschen in ihrer Welt es wollen. Das kann sein, weil wir wie jemand aussehen, der nicht mehr Bestandteil ihres Lebens ist oder weil wir für sie etwas Wichtiges verkörpern. Es gibt viele Möglichkeiten.«
Jaron starrte perplex auf den Tisch. »Wir sind … Sehnsüchte«, wiede rholte er stockend. »Menschlich aussehende … Sehnsüchte. Also ist alles, was wir tun abhängig, vorbestimmt oder wie man es sonst nennt?!«
»Nicht ganz. Die meisten ja, sie existieren nur für ihren Grund. Ich schätze, du wirst in nächster Zeit wie von selbst auf sie achten. Sie l eben nicht wirklich, sie streifen im besten Fall umher. Sofern es die Menschen, die sie sich herbeigesehnt haben, nicht wollen, verändern sie sich nicht. Eine Frau beispielsweise, die drei Häuser weiter wohnt, ist seit ihrem Auftauchen vor gut zwei Jahren schwanger – normal ist das nicht. Es gibt aber auch die, nennen wir sie die Glücklicheren, unter uns, die mehr können. Sie haben ein gewisses Maß an freiem Willen. Sie entwickeln im besten Fall Hobbys, knüpfen Freundschaften und entwickeln eine Persönlichkeit.«
»Gehören wir zu denen mit einem freien Willen?«
»Ich denke schon. Ich schätze, ansonsten würde dieses Gespräch überhaupt nicht stattfinden.«
Jaron stützte die E llebogen auf der Tischplatte ab. »Wow«, seufzte er. »Das ist schwer zu glauben.«
»Du kannst es allerdings erkennen«, bemerkte Darragh mit einem ungewohnt mitfühlenden Blick. »Wenn du darauf achtest, merkst du es, ob du etwas freiwillig tust oder weil du musst.«
Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit hatte er das Gefühl, eine wild gewordene Horde würde ihn überrennen .
»Hattest du dieses Gefühl schon einmal?« , fragte Darragh.
»Nein, ich glaube nicht .« Er konnte nur hoffen, dass Darragh nicht erkannte, dass er log. Sein bester Freund hatte ein unheimliches Talent dafür, seine Launen zu durchschauen. »Darragh, warum erzählst du mir davon? Ich glaube, mir wäre es lieber gewesen, ich wüsste nichts.«
»Es besteht eine Verbindung zwischen dieser Welt und der der Menschen. Keiner von uns kann hinübergehen – zumindest sollte er es nicht – und es gibt nur schätzungsweise eine Hand voll Menschen, die hierher kommen können. In den letzten Jahren gab es niemanden, da die letzte gestorben ist, aber nun scheint es so zu sein, dass wieder jemand gefunden wurde. Wenn sie hier ist, ist es meine Aufgabe, ihr zu helfen, sie zum Beispiel mit den wichtigsten Regeln vertraut zu machen. Du wirst sie vermutlich kennen lernen, deshalb hielt ich es für angebracht, dir die Wahrheit zu erzählen.«
*
Es hätte mich erleichtern oder überraschen sollen, dass Alice die Geschichte glaubte, ohne die Dinge ernsthaft zu hinterfragen.
Wir hatten uns in eine abgeschottete, kaum einsehbare Ecke des Restaurants gesetzt und eine Kleinigkeit bestellt, um sowohl meinen Magen als auch den Kellner zu beruhigen, der über meine Kleidung nur dank eines ordentlichen Trinkgeldes hinweg sah. Laut Alice waren manche Leute, dafür dass sie selber wie Pinguine herumliefen, wirklich pingelig. Dann hatte ich ihr so leise wie möglich berichtet, was ich konnte, was seit dem Tod meines Vaters wirklich passiert war und was der Inhalt von mamés eigentümlicher Bibelinterpretation gewesen war, inklusiver aller bis heute anhaltender Folgen.
Alice war, kaum dass ich begonnen hatte, Feuer und Flamme für die Geschichte gewesen. Die ungünstigen Folgen für meine Familie, mit denen das Ganze ve rbunden gewesen sein soll, schreckten sie nicht ab.
Für Alice war diese gesamte Geschichte die
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