Desiderium
verschwinden?«
»Selbstverständlich verschwinden immer wieder welche. Aber dann geschieht es auf natürlichem Weg, die anderen bemerken es nicht einmal, weil es der Lauf der Dinge ist. Dieses Mal ist es anders. Wir bemerken es. Selbst die Sehnsuchtszombies, wie du sie nennst, halten einen Moment inne und wundern sich. Und genau das kann ich mir nicht erklären. Wie sonst könnten sie verschwinden? In dieser Welt gibt es keine Verbrechen, dazu ist der freie Wille zu schwach, die Moral zu groß.«
Oder die Gottesfurcht. »Darf ich in dem Zusammenhang mal eine ganz dumme Frage stellen? Euch zwei Experten ausgenommen, haben die Sehnsüchte, die ich bisher gesehen habe, kein Sozialleben, aus dem sie gerissen werden. Die wissen wenn überhaupt nur ihren Namen.«
»Es wird Auswirkungen auf die Menschen haben, die sie sich herbe isehnen. Wenn wir Glück haben und sie nur verschwunden sind, werden sie sich eine Zeit lang unwohl fühlen. Die Sehnsüchte müssen sich einer unnatürlich neuen Umgebung anpassen. Das bewirkt eine unterbewusste Umstellung für die Menschen. Unangenehm, es sollte vermieden werden, aber es wäre nichts Weltbewegendes.«
»Und im schlimmsten Fall?«, hatte Jaron sich eingemischt. Er hatte auf dem Boden gesessen, den Rücken an einen Baum gelehnt und riss ein paar Grashalme aus.
»Im schlimmsten Fall sind sie tot. Ohne dass die Menschen sich von ihnen lösen konnten«, hatte Darragh erklärt.
»Ich ahne, worauf das hinausläuft: Die Menschen haben das G efühl, über etwas nicht hinweg zu kommen, denken nur noch an ihre Sehnsucht, verlieren am Besten noch den Bezug zum wahren Leben … Ähnlich wie mein Alltag!«
Sowohl Jaron als auch Darragh hatten mir Blicke zugeworfen. Jaron belustigt über meinen Tonfall, Darragh böse:
»Das ist alles andere als lustig. Es kann weitreichende Folgen haben.«
16:00 Uhr: Latein:
Stultus sum. Ich kam mir äußerst dumm vor . Die Sprache war tot und trotzdem musste ich sie lernen.
17:00 Uhr: Hausaufgaben:
Ein wenig Deutsch, weil ich mich darauf nicht konzen trieren musste. Ich ignorierte das sehnsüchtige Ziehen in meinem Inneren, kaum dass ich ein paar Worte las.
17:30: Tagesende
*
Nach seiner ersten Woche als Cassims Trainer war Jaron um einiges schlauer als vorher.
Zum einen fiel ihm ein ums andere Mal auf, dass sie zwar vorgab, nichts zu empfinden, jedoch empfindlich wurde, sobald es um Sport ging. Es nervte ihn, dass sie ihm st ets die Unterkühlte vorspielte. Und von Zeit zu Zeit ärgerte er sie gerne mit manchen Übungen; er hätte es auch bei deutlich weniger Gymnastik belassen können.
Des Weiteren verstand er erst jetzt, was sie und Darragh mit den Ve ränderungen gemeint hatten, die durch ihre regelmäßigen Besuche erfolgen würden. Jaron bemerkte, wie sich die Welt um ihn herum veränderte. Meist waren es Kleinigkeiten, aber es reichte, um ihm erneut Respekt vor der ganzen Auserwähltensache einzuflößen. Mehr als er im Augenblick vor Cassim hatte. Auf ihrem Trainingsplatz gab es inzwischen einen festen Boden, Matten und etwas, das sich Barren und Schwebebalken nannte. Auch der Weg zu den Städten war zu einer befestigten Straße geworden, auf der man laufen konnte, ohne sich alle zehn Minuten den Fuß umzuknicken – auch wenn Jaron das für gewöhnlich egal war, er ritt meistens, wenn er in dieser Gegend unterwegs war. Die auffälligste Veränderung fand er innerhalb der Städte, wo die ersten Häuser – die Bibliothek, die Kneipe, sowie wenige Wohnhäuser – neuerdings aus Stein, statt aus Holz waren.
»So baut man bei uns die letzten 500 Jahre Häuser – eher noch länger«, erklärte Cassim, als Jaron sie einmal darauf ansprach.
Den größten Erfolg in dieser Woche sah man an Cassim selbst. Er konnte förmlich dabei zusehen, wie sie sich veränderte, wenn sie nur ein paar Schritte getan hatte. Sie richtete sich auf, vermittelte einen selbstbewussten Eindruck.
Und am Freitag dauerte es schon eine Stunde, bis sie wieder zurüc kmusste.
Das Training zeigte Wirkung.
In der zweiten Woche wurde Jaron angewiesen, sich auf das Finden von Zeugen zu konzentrieren. Darüber hinaus wollte Cassim dabei die Sehnsüchte nach ihrem Vater und ihrer Tante ausquetschen.
Zu Beginn war sie überzeugt davon, fündig zu werden. Doch bereits nach zehn Minuten musste sie ihm gegenüber eingestehen, dass ihr Vorhaben schwieriger umzusetzen war als erwartet: Jaron kannte keine der Sehnsüchte, die Cassim ansprach, aber im
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