Desiderium
noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Jaron fuhr unbehindert fort. »Egal, was du tust, immer ruhst du dich auf deiner Gefühllosigkeit aus. ‚Ich bin taktlos? O tut mir Leid, ich habe seit drei Jahren kein Feingefühl mehr’, andere Leute erschrecken sich oder haben möglicherweise Angst: ‚Was für Memmen !’ Soll ich noch mehr Beispiele nennen? Die Ausnahme ist natürlich, wenn es um deine Vorgänger geht, dann bist du verständnisvoll, hast Mitgefühl.«
»Das ist doch …«
»Ich kann es nicht mehr hören! Aber gut, wenn du es so willst. Die Samthandschuhe werde ich jetzt allerdings ablegen.«
» Etwas anderes kenn ich nicht von dir. Die hattest du bisher auch nur an, wenn es um deine geliebte Miss Perfect ging.«
»Vergiss nicht, dass sie ein Teil von dir ist.« In der nächsten Sekunde stand er wieder so nah vor mir, dass er zwei Finger unter mein Kinn legte.
Verfluchter, sadistischer Mistkerl!
Dass er selbst dabei Schmerzen haben musste, bedachte ich nicht.
»Selbst dir mag nicht entgangen sein, dass ich mich möglicherweise für den mehr oder weniger vorhandenen Durands- Charme interessiere – in welcher Form auch immer – aber so wie du dich verhältst, geht es dich rein gar nichts an, was ich mit Lillian mache oder nicht. Das fällt unter freien Willen, Prinzessin.«
Ich wies ihn nicht darauf hin, dass ich die Lüge heraushörte. Hatten wir nicht geklärt, dass seine Beziehung nichts mit freiem Willen zu tun hatte?
»Gut, meinetwegen«, erwiderte ich schließlich. » Könnten wir dann trainieren gehen?«
Sein Blick hinderte mich daran, noch mehr zu sagen. Der Gedanke dahinter schien mich förmlich anzuschreien: Du hast nichts von dem verstanden, was ich mit gestern bezweckte.
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging ich zum Trainingsplatz. Mein Training würde mir helfen, mich endgültig abzureagieren.
Doch kaum kam der Platz in Sicht, blieb ich wie angewurzelt stehen. Dort, wo wir bisher trainiert hatten, stand ein Gebäude mit kleinen, hohen Fenstern und Flachdach – eine Turnhalle. Mein Trainingsplatz war genau genommen zu der Turnhalle geworden, die in Deutschland neben meiner Grundschule gewesen war. Eine weitere Erinnerung.
»Ich halte es für besser, wenn wir draußen bleiben«, erklärte Jaron, der nicht im Mindesten überrascht über diese Veränderung schien.
»Warum? Laufen kann ich auch drinnen.«
»Mir kam gerade eine Idee. Wenn es funktioniert, würden wir aber riskieren, das Gebäude in Schutt und Asche zu legen. Es wäre lästig, selbst wenn es morgen wieder makellos sein sollte.«
Widerwillig wandte ich mich zu ihm um. »Das da wäre?«
»Testen, ob deine neue Kraft nur zu etwas gut ist, wenn du sauer auf mich bist, oder ob man es allgemein nutzen kann.«
Wie so oft legte ich keinen gesteigerten Wert darauf zu ges tehen, dass seine Idee gut war. Mir fiel nichts ein, was dagegen sprechen sollte. Auch wenn ich mir Mühe gab. Ganz viel Mühe.
Wir ließen die Trainingshalle einige Meter hinter uns und näherten uns einer besonders breiten Stelle des Flusses, an dem die Grashalme bis zu den Knien wuchsen. Dass meine Schuhe trotz der sommerlichen Temperaturen geschlossen waren, stellte sich als Glücksgriff heraus, denn sie versanken sofort in dem matschigen Boden.
»Ich habe die Hoffnung, dass du hier nicht direkt einen Fläche nbrand auslöst«, erklärte Jaron schulterzuckend.
Auch das machte leider Sinn.
»Was glaubst du, wie ich anfangen soll? Die Blätter anstarren und hoffen, dass der Funke überspringt?«
Jaron verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wäre vielleicht ein Anfang. Probiere es mit Willenskraft.«
Toller Plan ! Ich trat einen Schritt beiseite und suchte mir einen beliebigen Punkt auf dem Boden – ein umgeknickter Grashalm, dessen Spitze den Boden streifte. Ich stellte mir vor, wie es sich entzündete; eine gelblich- rote Flamme, die sich wie ein chinesischer Drache um den Halm wand. Deutlich sah ich es vor mir, ich konnte die Hitze des Feuers spüren, den Rauch riechen. Mehrmals ging ich die Vorstellung bis ins kleinste Detail durch, richtete alles in mir darauf, als hinge mein Leben davon ab.
Nichts.
»Willenskraft reicht nicht«, stellte ich nach dem fünften Versuch fest.
Jaron hatte mich die ganze Zeit kommentarlos beobachtet. »Schon verwunderlich, wenn man bedenkt, was für einen sturen Dickschädel du hast.«
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, danke, aber es ändert nichts daran, dass es nicht funktioniert.« Als er
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