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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christin C. Mittler
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nichts erwiderte, kam mir ein Verdacht: »Kann es sein, dass du eine Theorie hast, wie es sonst klappen könnte?«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Er log schon wieder. »Die einzige Idee, die mir gerade kam ist, dass du dabei zu viel nachdenkst. Du lässt deinen Verstand wie so oft die Oberhand gewinnen … Du solltest dich von deiner Sehnsucht führen lassen.«
     
    Nr. 16: Lerne, dich von der Sehnsucht führen zu lassen
     
    Wie könnte ich jemals eine der heiligen Regeln vergessen, die im Buch der Eingeweihten standen?
    »Und wie soll ich das anstellen? Leider reagiert sie nicht, wenn ich rufe ‚Komm her, kleine Sehnsucht, na komm, komm!’«
    »Lass los!« Passenderweise löste er seine verschränkten Arme und ließ eine Hand in der Hosentasche versinken.
    Zum wiederholten Mal suchte ich mit den Augen nach meinem neuen Lieblingsgrashalm. Vor meinem inneren Auge sah ich wie er brannte. Ich starrte ihn an, bis ich nur noch ihn sehen konnte, versuchte mich nur auf meine Sinne zu verlassen. Sehen, riechen, fühlen!
    Es war, als würde ich mich selbst in mein Innerstes ziehen. Mein Herzschlag schien lauter zu werden; er dröhnte mir in den Ohren und schluckte Jarons Stimme oder wie das Wasser plätscherte. Da war etwas, das außer Blut meinen Körper durchströmte, nichts Greifbares.
    Lass los , sagte Jarons Stimme in meinem Kopf.
    Es war so schwer!
    Mein Körper begann zu zittern, als die Sehnsucht in mir stärker wurde. Sie durchströmte mich nicht nur, sie schien meinen Körper auseinanderreißen zu wollen. Das Bild entfernte sich von mir – auf einer unsichtbaren Welle davongetragen; zur selben Zeit wurden die Umrisse schärfer, die Farben leuchtender.
    Dann verschwand alles.
    Als ich vollständig in die Realität zurückgekehrt war, berührten meine Knie den Boden. Ich hatte den Kopf vornüber gebeugt.
    Jaron war näher gekommen, stand jedoch aufrecht und blickte auf mich herab. Ich spürte seinen fragenden Blick im Nacken.
    »Es bewusst zu tun, ist anstrengender als i ch dachte«, bemerkte ich leise.
    »Mach’s noch mal«, erwiderte er. »Es war ein guter Anfang, es sah aus als könnte es funktionieren. Aber man sieht dir an, dass du zu viel darüber nachdenkst, was du tust. Steh auf und versuchs noch einmal!«
    Nach drei weiteren Versuchen hatte zwar die Erde leicht gebebt, aber keine Pflanze hatte auch nur für den Bruchteil einer Sekunde die Farbe geändert oder sonst wie reagiert.
    Ich lag zusammengekrümmt auf dem Boden, mein Kopf schien von heißen Nadeln durchbohrt zu werden. Der Rest meines Körpers fühlte sich an, als sei jeder Muskel verschwunden.
    Meine Uhr gab schon zum zweiten Mal ein leises Piepen von sich. Der Zeiger drehte sich erst einmal über das gesamte Ziffernblatt und a nschließend weiter, bis er auf der Acht stehen blieb. Ich war so erschöpft, dass mir nur noch zwanzig Minuten gegeben wurden.
    »Es klappt einfach nicht. Ich weiß nicht, warum. Es geht nicht.«
    Ich konnte von Jaron nicht mehr sehen als seine T urnschuhe, die wie meine Hände voller Schlamm waren.
    »Nein, wir machen weiter«, bestimmte er. Seine Stimme zeigte kein Mitgefühl. Es musste seine Art sein, sich an mir für den Streit zu r ächen.
    »Ich kann aber nicht mehr, selbst wenn ich wollte.« Ich wollte nach Hause in mein übergroßes Bett. Schlafen.
    Jaron blieb mitleidslos. »Du hast mir erzählt, dass du nicht verst ehen kannst, warum deine Mutter aufgegeben hat. Wie sie aufhören konnte, sich um euch zu kümmern. Ich glaube, du hast sie sogar als ‚schwach’ bezeichnet. Wenn ich mir dich so ansehe, da auf dem Boden ... Es heißt doch: Wie die Mutter, so die Tochter.«
    »Was soll das?«
    »Du bist schwach und nutzt nicht das, was dir gegeben wird. Du hast Angst davor.«
    »Du hast keine Ahnung …«
    »Doch, deine Mutter kam mit dem hier nicht klar, obwohl sie nicht einmal direkt davon betroffen war. Dein Stolz bringt dich immer und immer wieder dazu, es besser als sie machen zu wollen. Du kommst hierher, um deine Pflicht zu erfüllen, um dich zu schützen …«
    Ich rappelte mich auf, bis ich hockend und bedrohlich schwankend auf meinen Füßen stand. Meine Hand ballte sich zur Faust. »Hör auf!«
    »Du erzählst deiner Schwester von nichts, weil du sie schützen willst. Weißt du, was ich glaube? Auch bei ihr hast du einfach Angst. Du hast Angst, sie könnte dir erzählen, dass sie selbst leichte Anzeichen spürt. Schwache, immerhin ist sie keine Auserwählte, aber das würde dir schon

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