Desire - Die Zeit Der Rache Ist Gekommen
sie um eine Ecke bog, wäre sie um ein Haar mit Schwester Edwina zusammengestoßen. »Oh!«, keuchte Lucia und fuhr sich mit der Hand an die Brust. »Was machst du denn hier?« Die Gemeinschaftstoiletten und -duschen befanden sich in der entgegengesetzten Richtung.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte Edwina. »Und du?«
»Komm mit. Es ist schwer zu erklären.« Lucia zupfte am Habit der anderen Nonne und ging weiter, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es richtig war, sich Schwester Edwina anzuvertrauen. »Ich … ich glaube, da stimmt etwas nicht.«
Ohne der anderen Nonne einen Blick zuzuwerfen, stürzte Lucia die Treppe hinunter. »Beeil dich!« Sie hörte, dass Schwester Edwina hinter ihr herlief. Flüchtig fragte sie sich, warum Edwina um diese Uhrzeit in Ordenstracht und mit Nonnenschleier durch die Gänge wanderte, doch sie hatte jetzt keine Zeit, sich damit zu befassen.
»Wohin gehen wir?«, fragte Edwina außer Atem.
»Ich … ich bin mir nicht sicher.«
»Augenblick mal. Du weißt nicht, was du gehört hast, weißt nicht, wohin du gehst, aber –«
»Komm einfach mit«, befahl Lucia knapp. Für gewöhnlich war sie keineswegs herrisch, aber heute Nacht ging es nicht anders. Und was ihre geistige Gesundheit anbelangte – daran hegte sie langsam ebenfalls Zweifel. Trotzdem eilte sie weiter. Sie hoffte, dass sie sich irrte –
o lieber Gott, bitte mach, dass ich mich täusche –,
dass sie sich die Stimme lediglich einbildete, doch die Härchen, die sich auf ihren Armen sträubten, sagten ihr das Gegenteil.
»Ich weiß nicht, ob das, was wir hier tun, richtig ist«, gab Edwina zu bedenken, als Lucia mit der Schulter die Doppeltür aufstieß und hinaus in den Garten trat. Vom Mississippi wehte ein kräftiges Lüftchen herüber und brachte den Geruch des Flusses mit sich. Wolken trieben vor den Mond und ließen auch die Sterne verschwinden.
Lucia wartete nicht auf die andere Nonne, sondern lief den Gartenweg entlang, der zum Friedhof führte. Die Tore standen offen.
Lieber Gott, steh mir bei.
Sie versuchte, auf den Herrn zu vertrauen, trotz der Stimme des Bösen, die sie vorwärtstrieb.
Schwester Edwina holte sie am Friedhofstor wieder ein.
»Bist du verrückt geworden?« Edwinas blasse Augen bohrten sich in ihre.
Vielleicht,
dachte Lucia. Ohne eine Antwort zu geben, setzte sie ihren Weg fort. Obwohl die Stimme des Dämons sie nicht länger antrieb, wusste sie genau, wohin sie sich wenden musste, und sie fürchtete sich vor dem, was sie finden würde.
Bitte mach, dass ich mich täusche,
dachte sie mit wild pochendem Herzen. Der Nachtwind zerrte an ihren Haaren.
Mach, dass das Ganze ein Irrtum ist!
Lucia verlangsamte ihren Schritt, als sie zu der Engelsstatue aus ihrer Vision kam. Der Engel war von einem unwirklichen Grau und hatte die Flügel weit ausgebreitet. Er streckte die Arme gen Himmel, und von seinen Augen zog sich eine Schmutzspur über die Wangen, als würde er weinen.
Genau wie in der Vision.
Zu seinen Füßen, vor der Grabstätte, lag die reglose Gestalt einer Frau.
Schwester Edwina trat jetzt neben Lucia und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
Dünnes Mondlicht sickerte durch die Wolken auf den Leichnam. Die Frau, die zu Füßen des Engels lag, trug genau wie Camille ein abgetragenes Hochzeitskleid. Der Stoff, alt und zerschlissen, flatterte in den Böen, die über den Friedhof wehten und an den Zweigen rissen. Die Äste der alten Bäume stöhnten leise.
»Heiliger Vater, nein!«, schrie Schwester Edwina, als Lucia in die Hocke ging, um zu prüfen, ob noch Leben in dem zarten Körper war. Dann gab sie einen tiefen, kummervollen Klagelaut von sich. »Nicht Asteria …« Sie schlang die Arme um ihre Taille und fiel ebenfalls auf die Knie. Sie weinte.
Lucias Hände flogen zu Asterias Handgelenk und suchten nach einem Zeichen von Leben, hoffend, betend.
Doch sie konnte keinen Puls finden.
Asteria atmete nicht mehr.
Ihre Seele war längst auf dem Weg in den Himmel.
Tränen strömten aus Lucias Augen. Dann kam ein Gebet über ihre Lippen, stockend, unterbrochen von Schluchzern.
Die Glocken zur Mitternacht verstummten.
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Kapitel vierunddreißig
J etzt erzähl mir nicht, das ist auch eine alte Klassenkameradin von dir«, sagte Bentz, als Montoya neben dem Leichnam in die Hocke ging und in das leblose, bläuliche Gesicht von Schwester Asteria blickte.
»Sehr komisch«, schnaubte Montoya.
»Nun?«
»Nein, Bentz«, sagte Montoya, während er sich
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