Desire - Die Zeit Der Rache Ist Gekommen
war? Was, wenn ihr Mörder hinauf in den Wohnbereich geschlichen war und ein weiteres Leben ausgelöscht hatte? Lucia drängte ihre Furcht zurück, tastete nach ihrem Rosenkranz und rief leise: »Schwester Dorothy?«
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass am Ende des Flurs vorsichtig eine Tür geöffnet wurde. Schwester Maura trat aus ihrem Zimmer, wie immer mit einem mürrischen Ausdruck auf dem Gesicht. »Was machst du da?«, fragte sie und schob ihre dicke Brille den Nasenrücken hinauf.
»Die Mutter Oberin hat uns gebeten, nach unten zu kommen.«
»Warum?« Maura furchte die Brauen. Sie war eine ernste Frau. Lucia kannte sie nicht besonders gut.
»Das hat sie nicht gesagt. Beeil dich bitte.«
Eine weitere Tür ging auf. Schwester Edwina betrachtete die kleine Gruppe. »Was geht hier vor?«, fragte sie und warf sich ihren dicken blonden Zopf über die Schulter. Die sportliche Frau mit dem breiten Gesicht und den hohen Wangenknochen überragte Lucia um gut zehn Zentimeter. Ihre tiefliegenden blauen Augen wirkten stets aufgewühlt, als wäre sie ständig in angespannter Stimmung. »Warum klopfst du an Dorothys Tür?«
»Die Mutter Oberin wünscht, dass wir uns alle im Speisesaal versammeln«, erklärte Lucia.
»Wozu? Es ist doch mitten in der Nacht!«
»Ich weiß.«
»Was will sie denn?«
So viele Fragen …
»Ich bin sicher, die Mutter Oberin möchte uns das gern selbst mitteilen.«
»Und warum bist du wach?«, fragte Schwester Edwina und sah durch den Flur in Richtung von Lucias kleinem Zimmer. »Warum hat die Mutter Oberin
dich
geschickt?« Sie wirkte empört, als fühlte sie sich persönlich beleidigt.
Lucias Nerven waren gespannt wie ein Flitzbogen. »Bitte, zieht euch einfach schnell an.«
»Du weißt doch, was los ist, hab ich recht?«, bohrte Edwina, die sich ständig benachteiligt fühlte, in ihrer direkten Art.
»Die Mutter Oberin wird mit uns sprechen.«
»Natürlich.« Der Sarkasmus in Edwinas Stimme war nicht zu überhören.
Plötzlich öffnete sich die Tür zu Dorothys Zimmer ein winziges Stück. »Was ist los?«, flüsterte es durch den schmalen Spalt. Dorothy, eine dicke und stets besorgte Frau, klang nicht im mindesten verschlafen. In ihrer Stimme schwang Argwohn mit.
Lucia überbrachte ihre knappe Nachricht. Weitere Türen wurden geöffnet – der Lärm im Flur hatte die anderen geweckt. Angela kam aus ihrem Zimmer geschossen und trat zu Lucia, wobei sie den ungehaltenen Blick, den Maura ihr zuwarf, geflissentlich ignorierte.
»Ich helfe dir«, bot sie an. Edwinas Tür schloss sich mit einem Knall. »Kümmere dich nicht um sie«, sagte Angela und ging neben Lucia her. »Sie ist bloß eifersüchtig, dass die Mutter Oberin dich mit dem Überbringen der Nachricht betraut hat.«
Es war Lucia nicht möglich, etwas auf Angelas Worte zu erwidern. Nicht jetzt. Sie war viel zu überwältigt von der Dunkelheit in ihrem Herzen, die sich weiter und weiter ausbreitete, je länger sie die Nachricht von Camilles Tod vor ihren Schwestern verborgen hielt.
Lucia tastete nach den Perlen ihres Rosenkranzes. Sie wusste, warum sie aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen worden war, erkannte, warum der Atem des Bösen ihr Ohr gestreift hatte und warum Schwester Camille, diese gepeinigte Seele, ermordet worden war.
Sie wusste es, aber sie würde es niemandem verraten.
Montoya ging den dämmrigen Gang zur Apsis der großen Kathedrale entlang. Er klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür, dann stieß er sie auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ein uniformierter Beamter wachte, die Arme vor der Brust verschränkt, über den breitschultrigen Mann in einem schwarzen Priestergewand, der in dem bernsteinfarbenen Lichtkegel der einzigen Lampe im Raum saß.
Vater Frank O’Toole, der, von den anderen abgesondert, in diesen kleinen, an den Hauptteil der Kathedrale anschließenden Raum gebracht worden war, schien ins Gebet vertieft zu sein, seine großen Hände lagen zusammengefaltet in seinem Schoß.
Als die Tür aufging, blickte er verwirrt auf.
»Reuben?« Seine Stimme klang ungläubig, seine Lider flatterten vor Überraschung.
»Wie geht’s dir, Frank?« Montoya beugte sich über den kleinen, zerschrammten Tisch und schüttelte seinem alten Freund die Hand.
Frank O’Tooles Händedruck war immer noch kräftig. »Es ist mir schon mal bessergegangen«, gab er zu und erhob sich mit einem resignierten Lächeln, das völlig anders war als das breite Grinsen, das er auf der Highschool stets zur Schau
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