Désirée
nämlich einen schrecklichen Skandal gegeben, wenn wir dort nicht pünktlich erschienen wären. Wir wurden auf die Galerie geführt, die der Kaiserin mit den Damen der kaiserlichen Familie und den Gattinnen der Marschälle vorbehalten war. Und wir kamen wirklich im letzten Augenblick. Julie schob sich schnell auf ihren Sitzplatz zur Linken Josephines, ich wurde in die zweite Reihe gewiesen und renkte mir den Hals aus, um zwischen Julies Straußenfedern-Kopfputz und Josephines hochgekämmten und mit Perlenschnüren durchflochtenen Kinderlöckchen durchsehen zu können. Unten wogte ein Heer von Uniformen. In den ersten Bänken saßen siebenhundert pensionierte Offiziere in abgetragenen Uniformen, mit Orden und verblichenen Schleifen behängt. Dicht hinter ihnen, schmal und wie festgefroren, die zweihundert Schüler der Polytechnischen Schule. Vor den Kirchenbänken hatte man achtzehn vergoldete Stühle aufgestellt. Hier schimmerte es dunkelblau-golden: die Marschälle. Während die ehemaligen Offiziere und zukünftigen Techniker kaum zu atmen wagten, schienen sich die Marschälle gut zu unterhalten. Ich sah, dass Jean-Baptiste eifrig mit Masséna sprach, und der blonde Junot wandte sogar das Gesicht zu uns herauf und war nahe daran, seiner Frauzuzuwinken. Da klappte Josephine schnell ihren Fächer auf und hielt ihn vor ihr Gesicht, um ihm anzudeuten, dass er sich unmöglich aufführte. Dann verstummten auch die Marschälle. Der Kardinal war vor den Altar getreten, kniete nieder und betete stumm. Gleichzeitig hörten wir von draußen Trompetenstöße und das Rauschen unzähliger Stimmen. »Vive l’Empereur«, »vive l’Empereur«. Der Kardinal erhob sich und schritt langsam, gefolgt von zehn hohen Geistlichen, dem Portal zu. Hier empfing er den Kaiser der Franzosen. Napoleon wurde von Joseph und Louis und seinen Ministern begleitet. Die beiden Prinzen trugen eigentümliche Kostüme. In ihren weinroten Samtwesten, den weiten Kniehosen und den weißen Seidenstrümpfen sahen sie wie – ja, wie die Darsteller von Lakaien in einer Aufführung des Théâtre Français aus. Die Prozession der geistlichen und weltlichen Würdenträger, die sich jetzt auf den Altar zu bewegte, schimmerte in allen Regenbogenfarben. An ihrer Spitze gingen Napoleon und der Kardinal. Napoleon – eine unscheinbar dunkelgrüne Silhouette in all dem Gefunkel. »Er ist verrückt, er hat sich eine Oberstenuniform ohne Orden angezogen«, flüsterte Caroline aufgeregt. Sie saß neben Prinzessin Hortense. Hortense bohrte einen spitzen Ellenbogen in ihre Seite und zischte »Ssst«.
Langsam stieg Napoleon die drei Stufen empor, die auf den vergoldeten Thronsessel links vom Altar hinaufführten. Ich nehme an, es war ein Thronsessel, schließlich habe ich noch nie einen gesehen. Dort saß er dann – eine kleine einsame Gestalt in der Felduniform eines Obersten. Ich strengte meine Augen sehr an, um das Emblem auf dem hohen Rücken des vergoldeten Stuhles zu unterscheiden. Es war ein N. Ein großes N, umgeben von einem Lorbeerkranz.
Erst als das Geraschel der Satinroben rund um michankündigte, dass wir auf die Knie fallen sollten, wurde mir klar, dass der Kardinal längst begonnen hatte, die Messe zu lesen. Napoleon war aufgestanden und zwei Stufen herabgestiegen. »Er hat sich geweigert, die Beichte abzulegen, dabei hat ihm Onkel Fesch so zugeredet«, flüsterte Caroline Polette ins Ohr. Hortense zischte »Ssst«. Josephine hatte die gefalteten Hände vors Gesicht geschlagen, es sah aus, als ob sie verzweifelt betete. Onkel Fesch … der rundliche Abbé, der es während der Revolution vorgezogen hatte, zum Handelsreisenden zu werden und Etienne um eine Stellung in der Firma Clary zu bitten, war längst wieder dem geistlichen Beruf zurückgegeben worden. Von dem Tag an, an dem französische Truppen in Rom eingezogen und General Bonaparte dem Vatikan seine Friedensbedingungen diktiert hatte, war ihm der Kardinalshut sicher gewesen. Und nun hielt Onkel Fesch im Kardinalspurpur die goldene Monstranz in die Höhe. Auf ihren Knien lagen die Marschälle, auf ihren Knien lagen die pensionierten Offiziere, die in der Stunde der Not an der Spitze von Bauern, Arbeitern, Fischern, Bankbeamten und Rekruten die Grenzen der Republik verteidigt hatten. Auf ihren Knien lagen die jungen Schüler der Polytechnischen Schule. Auf ihren Knien lag Josephine, die erste Kaiserin der Franzosen, und neben ihr die ganze Familie Bonaparte. Auf ihren Knien lagen die hohen Geistlichen.
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