Désirée
Napoleon jedoch stand auf der ersten Stufe des Thrones und beugte höflich wartend das Haupt. Der letzte Orgelton verhallte. Wie ein leiser Windstoß ging ein tief gespannter Atemzug durch den Dom. Dann hielten tausend Menschen den Atem an. Napoleon hatte ein Papier aus der Brusttasche gezogen und begann zu sprechen. Aber er entfaltete nicht einmal den Bogen. Frei sprach er, mühelos und metallklar schwebte seine Stimme durch den Raum. »Er hat Sprechunterricht bei einem Schauspielergenommen«, zischelte Caroline. »Nein, bei einer Schauspielerin«, kicherte Polette, »bei Mademoiselle George.« – »Ssst«, zischte Hortense. Während der letzten Sätze war Napoleon von der untersten Stufe seines Thrones herabgestiegen. Nun trat er dicht vor den Altar und hob die Rechte zum Schwur: »Und zuletzt schwört ihr mit all der Macht, die euch zu Gebote steht, Freiheit und Gleichheit, diese Grundsätze, auf die sich alle unsere Einrichtungen aufbauen, zu bewahren. Ihr schwört!«
In die Höhe fliegen alle Hände. In die Höhe flog meine Hand. Ein einziger Schwurschrei schwoll auf, schwebte unter der Kuppel, verklang hallend. Das Tedeum setzte ein. Langsam kehrte Napoleon auf seinen Thronsessel zurück, setzte sich und wandte kein Auge von der Versammlung. Die Orgel brauste.
In Begleitung seiner achtzehn goldstrotzenden Marschälle verließ Napoleon den Dom. Ein dunkelgrüner Strich inmitten des Gefunkels. Vor dem Dom schwang er sich auf einen Schimmel und ritt an der Spitze aller Gardeoffiziere zu den Tuilerien zurück. Die Volksmenge jubelte. Eine Frau mit wirrem Blick hielt ihm einen Säugling entgegen und schrie: »Segne ihn, segne ihn!«
Jean-Baptiste erwartete mich am Schlag unseres Wagens. Während der Nachhausefahrt sagte ich: »Du hast in der ersten Reihe gesessen und hast alles deutlich gesehen. Was hat er eigentlich für ein Gesicht gemacht, während er so unbeweglich auf dem Thron saß?«
»Er hat gelächelt. Aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen.« Und weil er nichts hinzufügte, sondern nur schweigend vor sich hin starrte, fragte ich: »Woran denkst du, Jean-Baptiste?« »An den Kragen meiner Marschallsuniform. Die vorschriftsmäßige Höhe ist kaum zum Aushalten. Außerdem ist der Kragen zu eng, er stört mich entsetzlich.« Ich studierte die Pracht. Die weiße Satinwesteund der dunkelblaue Rock sind über und über mit Eichenlaub in echtgoldenen Fäden bestickt. Der blaue Samtmantel ist mit weißem Satin gefüttert und mit Goldborten besetzt. Riesige goldene Eichenblätter säumen ihn ein. »Dein ehemaliger Bräutigam macht es sich bequem. Während er uns in goldene Eichenblätter einschnürt, zieht er sich die Felduniform eines Obersten an«, sagte Jean-Baptiste. Es klang bitter. Als wir vor unserem Haus aus dem Wagen stiegen, drängten sich plötzlich einige junge Burschen in abgetragenen Röcken dicht an uns heran. »Vive Bernadotte!«, schrien sie, »Vive Bernadotte!« Jean-Baptiste betrachtete sie den Bruchteil einer Sekunde lang. »Vive l’Empereur!«, antwortete er dann. »Vive l’Empereur!«
Als wir einander allein beim Abendessen gegenübersaßen, bemerkte er wie nebenbei: »Es wird dich interessieren, dass der Kaiser dem Polizeiminister den vertraulichen Auftrag gegeben hat, nicht nur das Privatleben, sondern auch die Privatkorrespondenz seiner Marschälle genau zu überwachen.« »Julie hat mir erzählt, dass er sich im Winter richtig krönen lassen will«, sagte ich, nachdem ich seine Mitteilung überdacht hatte. Jean-Baptiste lachte hell auf: »Von wem? Lässt er sich vielleicht von seinem Onkel Fesch bei Orgelbegleitung in Notre-Dame die Krone aufs Haupt setzen?«
»Nein. Der Papst soll ihn krönen.« Jean-Baptiste setzte das erhobene Weinglas so hart zurück, dass er Wein verspritzte. »Aber das ist doch –« Er schüttelte den Kopf: »Désirée, das halte ich für ausgeschlossen. Er wird doch nicht nach Rom pilgern, um sich dort krönen zu lassen!« »Aber nein, er verlangt, dass der Papst zu diesem Zweck nach Paris kommt.« Zuerst konnte ich nicht begreifen, warum Jean-Baptiste diese Mitteilung so unglaublich fand. Aber er erklärte mir, dass der Papst niemals den Vatikan verlässt, um Krönungen im Ausland vorzunehmen.»Ich bin in der Geschichte nicht allzu gut bewandert, aber ich glaube, es ist noch nie vorgekommen«, fügte er hinzu. Ich streute eifrig Salz auf die Rotweinflecken und hoffte, dass sie sich dadurch leichter aus dem Tischtuch waschen lassen würden. »Joseph
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