Désirée
»Yvette kocht bereits Schokolade für die Königin«, sagte Marie und zog den dunklen Wollmantel, den sie über ihr bäuerliches Leinenhemd geworfen hatte, am Hals zusammen. »Und du stehst jetzt auf, ich habe der Königin gesagt, dass du sie sofort empfangen wirst. Komm, ich helfe dir, lass sie nicht warten, sie – weint!«
»Sagen Sie Ihrer Majestät, ich werde mich beeilen«, sagte ich zur La Flotte. Marie brachte mir ein einfaches Kleid. »Zieh dich lieber richtig an«, schlug sie vor. »Sie wird dich bitten, mitzukommen.« – »Wohin denn?« – »Zieh dich an, man braucht dich wahrscheinlich in den Tuilerien«, meinte Marie. »Fürstin, meine Mutter schickt mich, sie bittet Sie, Erbarmen zu haben und sofort zu ihr zu kommen«, schluchzte Hortense, als ich zu ihr trat. Dabei liefen Tränen an beiden Seiten ihrer langen Nase hinab. Die Nase war rot geweint, die blassblonden Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn. »Ich kann doch Ihrer Mutter nicht helfen, Madame«, sagte ich und setzte mich neben sie. »Das habe ich Mama auch gesagt. Aber sie besteht darauf, dass ich Sie bitte.«
»Gerade mich?«
»Ja, gerade Sie – ich weiß auch nicht, warum«, schluchzte Hortense in die Schokoladentasse. »Und jetzt – mitten in der Nacht?«
»Die Kaiserin kann doch nicht schlafen«, stöhnte Hortense. »Und sie will niemand sehen. – Nur – Sie!«
»Ja, dann werde ich eben mit Ihnen fahren, Madame«,seufzte ich. An der Tür stand bereits Marie und hielt mir Hut, Mantel und Muff entgegen. Die Salons der Kaiserin waren nur schwach beleuchtet. Schatten tanzten, ich stieß an den Möbeln an. Aber als Hortense die Tür des Schlafzimmers Ihrer Majestät öffnete, schlug uns strahlende Helle entgegen. Auf allen Tischen, auf dem Kamin, sogar auf dem Fußboden standen Leuchter. Weit geöffnete Koffer gähnten, halb voll gepackt. Überall lagen Kleidungsstücke herum, Hüte, Handschuhe, Staatsroben und Negligés in wildem Durcheinander. Jemand hatte in einer Schmuckkassette gewühlt. Ein Brillantendiadem glitzerte unter einem Fauteuil. Die Kaiserin war allein. Sie lag mit ausgestreckten Armen auf dem breiten Bett, der schmale Rücken bebte in verzweifeltem Schluchzen, sie schrie in die Kissen. Aus dem Nebenraum hörte man gedämpfte Frauenstimmen. Wahrscheinlich wurde im Ankleidezimmer gepackt. Josephine jedoch war mutterseelenallein. »Mama, hier bringe ich die Fürstin von Ponte Corvo«, sagte Hortense. Josephine rührte sich nicht. Ihre Nägel krallten sich nur noch mehr in die seidene Bettdecke. »Mama«, wiederholte Hortense. »Die Fürstin von Ponte Corvo!« Rasch entschlossen trat ich auf das Bett zu. Packte die zarten, vom Weinen geschüttelten Schultern und drehte Josephine um. Nun lag sie auf dem Rücken und starrte mich aus verschwollenen Augen an. Ich erschrak: Sie ist eine alte Frau, durchfuhr es mich. Sie ist in dieser Nacht eine alte Frau geworden … »Désirée«, formten die Lippen. Dann brachen neue Tränen hervor. Unaufhaltsam flossen sie über die ungeschminkten Wangen. Ich setzte mich an den Rand des Bettes und suchte ihre Hände in die meinen zu nehmen. Sofort klammerten sich ihre Finger um meine. Der blasse Mund war halb offen, ich sah die Zahnlücken, ihre Wangen waren zerknittert wie Seidenpapier. Weggeweint war die Emailleschminke, sichtbarwurden große Poren. Die Kinderlöckchen waren sehr schütter und klebten feucht an den Schläfen. Und das Kinn, dieses mädchenhaft betörende und etwas spitze Kinn war schlaff geworden und zeigte Ansätze eines Doppelkinns. Unbarmherzig badeten die vielen Kerzen das arme Gesicht in ihrem Licht. Hat Napoleon sie jemals ungeschminkt gesehen? »Ich habe einzupacken versucht«, weinte Josephine. »Majestät müssen vor allen Dingen schlafen«, sagte ich. Und zu Hortense: »Löschen Sie doch die vielen Kerzen aus, Madame!« Hortense gehorchte, sie glitt wie ein Schatten von Leuchter zu Leuchter. Schließlich flackerte nur ein winziges Nachtlicht. Josephines Tränen waren versiegt. Kurze harte Schluchzer schüttelten sie. Es war schlimmer als Weinen. »Jetzt werden Majestät schlafen«, wiederholte ich und versuchte, mich zu erheben. Aber ihre Finger ließen mich nicht los. »Sie müssen heute Nacht bei mir bleiben, Désirée«, zuckten ihre Lippen. »Sie wissen ja am Besten, wie er mich liebt … Wie keine andere, nicht wahr? Nur mich, nur mich –« Also deshalb wollte sie mich in dieser Nacht sehen. Weil ich es am besten weiß. Wenn ich ihr nur helfen könnte …
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