Désirée
vielleicht Post von Oberst Villatte angekommen? Schreibt er etwas von Pierre?« Ich schüttelte den Kopf. »Nach diesem neuen Sieg wird der Zar um Frieden bitten, und Pierre wird noch vor dem Winter zurückkommen«, sagte Marie zufrieden, kniete neben mir nieder und zog mir die Schuhe aus. In ihrem Haar sind so viele weiße Fäden, ihre Hände sind rau, ihr Leben lang hat sie schwer gearbeitet und ihre Ersparnisse diesem Pierre geschickt. Jetzt marschiert Pierre nach Moskau. Jean-Baptiste, was wird mit Pierre in Moskau geschehen?
»Schlaf gut, Eugénie! Und träum etwas Schönes!«
»Danke, Marie! Gute Nacht …« Wie in meiner Kinderzeit. Wer legt meinen Oscar schlafen? Ein, zwei, drei Adjutanten? Oder Kammerherren? Und du, Jean-Baptiste? Hörst du mich? Lass Pierre zurückkommen, lass ihn zurückkommen. – Aber du hörst mich wahrscheinlich nicht.
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Paris, vierzehn Tage später.
D a haben wir es: Ich bin schon wieder der Schandfleck der Familie! Julie und Joseph sind nämlich aus Mortefontaine nach Paris zurückgekommen und haben ein großes Fest gegeben, um den Einzug Napoleons in Moskau zu feiern. Auch ich wurde eingeladen. Aber ich wollte nicht hingehen und schrieb Julie, dass ich Schnupfen hätte. Schon am nächsten Tage besuchte sie mich. »Es liegt mir so viel daran, dass du kommst«, beharrte sie. »Man tuschelt nämlich so viel über dich und Jean-Baptiste. Natürlich hätte es sich gehört, dass dein Mann mit dem Kaiser nach Russland marschiert. Dann könnte man nicht das Gerücht verbreiten, dass Jean-Baptiste mit dem Zaren verbündet ist. Ich will, dass dieses böswillige Gerede –«
»Julie, Jean-Baptiste hat sich mit dem Zaren verbündet.« Fassungslos schaute Julie mich an. »Willst du damit sagen, dass – dass alles wahr ist, was die Leute sagen?«
»Ich weiß nicht, was die Leute sagen. Jean-Baptiste ist mit dem Zaren zusammengetroffen und hat dem Zaren Ratschläge gegeben.« »Désirée – du bist wirklich der Schandfleck der Familie!«, stöhnte Julie und schüttelte verzweifelt den Kopf. Das hat man mir schon einmal gesagt, weil ich Joseph und Napoleon Bonaparte in unser Haus eingeladen habe. Damals, als alles begann … Schandfleck unserer Familie! »Sag einmal, welche Familie meinst du eigentlich?«
»Natürlich die Bonapartes«, fuhr mich Julie an. »Ich bin doch keine Bonaparte, Julie.«
»Du bist die Schwägerin des ältesten Bruders des Kaisers«, erklärte sie. »Unter anderem, Liebes, nur unter anderem. Ich bin vor allem eine Bernadotte. Sogar die erste Bernadotte, wenn man uns als Dynastie betrachtet.«
»Wenn du nicht kommst, dann werden sie noch mehr über euch reden und wissen, dass sich Jean-Baptiste Bernadotte heimlich mit dem Zaren verbündet hat.«
»Das ist doch kein Geheimnis, Julie. Die französischen Zeitungen dürfen nur nichts darüber schreiben.«
»Aber Joseph verlangt ausdrücklich, dass du kommst. Mach mir doch keine Unannehmlichkeiten, Désirée!« Wir hatten uns den ganzen Sommer nicht gesehen. Julies Gesicht ist noch magerer geworden. Die Falten an den Mundwinkeln sind tief eingeritzt, ihre farblose Haut wirkt plötzlich welk. Eine wilde Zärtlichkeit packte mich. Julie, meine Julie ist eine abgehetzte, verblühte und tief enttäuschte Frau. Vielleicht hat sie von Josephs Liebesabenteuern erfahren, vielleicht behandelt er sie schlecht, weil er selbst von Jahr zu Jahr mehr verbittert wird und seine Königskronen nur Napoleon zu verdanken hat. Vielleicht spürt sie, dass Joseph sie nie geliebt und nur ihrer Mitgift wegen geheiratet hat, bestimmt weiß sie, dass diese Mitgift heute für Joseph, der an Häuserspekulationen und Staatsdomänen steinreich wurde, nichts mehr bedeutet. Warum bleibt sie bei ihm, warum quält sie sich mit Zeremonien und Empfängen ab – aus Liebe, aus Pflichtbewusstsein, aus Eigensinn? »Wenn ich dir einen Dienst damit erweise, werde ich kommen.« Sie presste die Hand an die Stirn: »Ich habe wieder einmal meine entsetzlichen Kopfschmerzen. So oft in letzter Zeit. Ja, bitte – komm! Joseph will dadurch ganz Paris beweisen, dass Schweden noch immer neutral ist. Die Kaiserin kommt auch und das ganze diplomatische Korps.« – »Ich bringe den Grafen von Rosen mit, meinen schwedischen Adjutanten«, sagte ich. – »Deinen – ach so, natürlich, deinen Adjutanten. Bring ihn nur mit, es kommen sowieso zu wenig Herren. Alle sind doch eingerückt.« Beim Weggehen blieb sie einen Augenblick vor Napoleons Porträt als Erster
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