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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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Fußschemel stehen. Niemand wird es bemerken, Sie erscheinen dadurch größer. Glauben Sie mir –« »Haben Sie das gelesen, Madame?« Ich hielt ihr mit zitternden Händen das Zeitungsblatt entgegen. Josephine warf einen flüchtigen Blick darauf. »Natürlich. Bonapartes erster Frontbericht seit Wochen! Das Bulletin bestätigt doch nur, was wir längstgefürchtet haben. Bonaparte hat den Krieg mit Russland verloren. Ich nehme an, dass er bald wieder in Paris sein wird. Haben Sie jemals versucht, beim Haarwaschen Henna zu verwenden? Ihre dunklen Haare würden bei Kerzenlicht rötlich schimmern. Es würde Ihnen gut stehen, Désirée!« »Dieses Heer, das am sechsten noch so stolz prangte, war schon am vierzehnten ein ganz anderes; es hatte keine Reiterei, keine Artillerie und keine Transportwagen mehr«, las ich. »Der Feind fand die Spuren des schrecklichen Unglücks, das die französische Armee befiel, und suchte es auszunutzen. Er umzingelte alle Kolonnen mit seinen Kosaken…« Mit diesen Worten teilte Napoleon die Tatsache mit, dass die größte Armee aller Zeiten auf ihrem Rückzug durch die russischen Schneewüsten zugrunde gegangen ist. Ganz nüchtern zählte er Truppeneinheiten auf. Von den Hunderttausenden, die er nach Moskau geführt hat, sind zum Beispiel nur noch viermal hundertfünfzig Reiter übrig. Sechshundert Reiter – Napoleons Kavallerie! Die Worte »Erschöpfung« und »Hunger« wiederholen sich. Zuerst konnte ich mir noch nichts darunter vorstellen. Ich las. Las dies 29. Bulletin von Anfang bis zu Ende. Es schloss mit den Worten: »Die Gesundheit Seiner Majestät war nie besser.«
    Als ich aufsah, starrte mir aus dem Spiegel ein fremdes Gesicht entgegen. Große, schwermütige Augen unter vergoldeten Lidern. Eine Stupsnase, nicht wie sonst rosig, sondern bräunlich gepudert. Und geschwungene Lippen, tiefrosa wie Zyklamen. So kann ich also aussehen, so schön, so neu … Ich senkte mein neues Gesicht wieder über das Zeitungsblatt. »Und was wird jetzt geschehen, Madame?«
    Achselzucken und – »Es gibt doch immer zwei Möglichkeiten im Leben, Désirée.« Josephine polierte ihre Nägel. »Entweder wird Bonaparte Frieden schließen unddarauf verzichten, ganz Europa zu regieren. Oder weiter Krieg führen. Wenn er weiter Krieg führt, gibt es wieder zwei Möglichkeiten, er könnte –« »Und Frankreich, Madame?« Ich muss sie angeschrien haben, denn sie zuckte zusammen. Aber ich konnte mir nicht helfen. Plötzlich verstand ich das Bulletin. Verstand auch die Gerüchte, die ich gehört hatte. Die Gerüchte sind wahr. Mein Gott – sie sind wahr. Zehntausend Männer, hunderttausend Männer stolpern durch den Schnee und weinen vor Schmerzen wie Kinder, weil ihre Glieder abfrieren, schließlich fallen sie und können nicht mehr aufstehen. Hungrige Wölfe bilden einen Kreis, sie wollen nach ihnen schießen und können das Gewehr nicht mehr halten. Da schreien sie in ihrer Not, und die Wölfe ziehen sich ein wenig zurück, es dämmert schon, die Nacht wird lang sein, die Wölfe warten … In verzweifelter Hast schlagen die Pioniere eine Brücke über einen Fluss, der Beresina heißt. Nur über diese Brücke führt der Weg zurück, die Kosaken sind schon sehr nah, jeden Augenblick wird diese Brücke in die Luft gesprengt werden, um sie aufzuhalten. Deshalb taumeln die Erschöpften mit letzter Kraft auf die Brücke, stoßen sich vorwärts, brechen zusammen und werden von Kameraden zertrampelt. Die Brücke kracht in ihren Fugen, nur hinüberkommen, nur hinüber ins Leben. Wer sich nicht durchstoßen kann, wird von der Brücke gedrängt, stürzt heulend zwischen die Eisschollen, versucht sich anzuklammern, wird von der Strömung erfasst, schreit auf, schreit, schreit und versinkt … Aber die Gesundheit Seiner Majestät war nie besser. »Und Frankreich, Madame?«, wiederholte ich tonlos. »Wieso? Bonaparte ist doch nicht Frankreich!« Josephine lächelte ihre schimmernden Nägel an. »Napoleon der Erste, von Gottes Gnaden Kaiser der Franzosen…« Sie blinzelte mir zu. »Wir zwei wissen doch, wie er es geworden ist. Barras braucht jemanden, der eineHungerrevolte unterdrückt, und Bonaparte ist bereit, auf die Pariser mit Kanonen zu schießen. Bonaparte wird Militärgouverneur von Paris, Bonaparte erhält den Oberbefehl im Süden, Bonaparte erobert Italien, Bonaparte in Ägypten, Bonaparte stürzt die Regierung, Bonaparte wird Erster Konsul –« Sie stockte. »Vielleicht wird sie ihn im Unglück

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