Désirée
uns. Joseph, König Joseph… »Genial, dass mein Bruder diesen Feldzug so rasch durchführen konnte, jetzt können unsere Truppen ruhig in Moskau überwintern.« Aber Talleyrand schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann leider die Ansicht Eurer Majestät nicht teilen. Vor einer halben Stunde ist ein Kurier eingetroffen. Moskau steht seit vierzehn Tagen in Flammen. Auch der Kreml brennt.« Aus weiter Ferne kamen Walzermelodien. Die Kerzen flackerten, Josephs Gesicht sah wie eine Maske aus, grünweiß, weit aufgerissene Augen, ein vor Entsetzen geöffneter Mund … Talleyrand dagegen hielt die Augen halb geschlossen, unberührt und ungerührt, als ob er diese Nachricht, die erst vor einer halben Stunde eingetroffen war, längst erwartet hätte. Moskau brennt. Moskau brennt seit vierzehn Tagen … »Wie ist das Feuer entstanden?«, fragte Joseph heiser. »Brandstiftung, kein Zweifel. Und zwar gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Stadt. Unsere Truppen versuchen vergebens, die Flammen zu löschen. Jedes Mal, wenn man glaubt, das Feuer erstickt zu haben, wird aus einem anderen Bezirk Moskaus ein neuerAusbruch der Flammen gemeldet. Die Bevölkerung leidet fürchterlich darunter.«
»Und unsere Truppen, Exzellenz?«
»Werden den Rückzug antreten müssen.«
»Aber der Kaiser hat mir gegenüber erwähnt, dass er unter gar keinen Umständen die Armee während der Wintermonate durch die russischen Steppen führen kann. Der Kaiser rechnet mit Moskau als Winterquartier«, beharrte Joseph verzweifelt. »Ich teile nur mit, was der Kurier meldet. Der Kaiser kann nicht in Moskau überwintern, weil Moskau seit vierzehn Tagen brennt.« Dabei hob Talleyrand den Champagnerkelch Joseph entgegen: »Lassen Sie sich nichts anmerken, Majestät, der Kaiser wünscht vorderhand nicht, dass die Nachricht bekannt wird. Vive l’Empereur!«
»Vive l’Empereur!«, widerholte Joseph tonlos. »Hoheit?« Talleyrand hielt auch mir sein Glas entgegen. Aber ich stand wie erstarrt. Sah, wie die Kaiserin mit einem gichtgekrümmten alten Herrn Walzer tanzte. Eins, zwei, drei – und eins, zwei, drei … Joseph wischte sich mit einem Spitzentaschentuch die plötzlichen Schweißtropfen von der Stirn. »Gute Nacht, Schwager Joseph, grüßen Sie mir Julie. Gute Nacht, Exzellenz«, murmelte ich. Dabei verlässt man kein Fest, bevor sich Ihre Majestät, die Kaiserin, zurückgezogen hat. Ich pfeife auf die Etikette. Ich bin müde und verwirrt. Nein, nein, nicht verwirrt. Ich sehe klar, so fürchterlich klar. Fackelträger liefen neben den Pferden meines Wagens, wie immer, wenn ich eine offizielle Ausfahrt unternehme. »Es war ein unvergesslich glanzvolles Fest«, sagte der junge schwedische Graf an meiner Linken. Ja, unvergesslich. »Kennen Sie Moskau, Graf von Rosen?« – »Nein, Hoheit. Warum?«
»Weil Moskau brennt, Graf. Weil Moskau seit vierzehn Tagen brennt.«
»Der Rat, den Seine Hoheit dem Zaren in Abo –«
»Nicht weitersprechen, bitte nicht weitersprechen! Ich bin sehr müde.« Und die entscheidende Bitte Talleyrands? Welche Bitte – und wann?
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Paris, 16. Dezember 1812.
B ei Josephine in Malmaison wurde gezupft. Und zwar im weißgelben Salon Scharpie für die Verwundeten in Russland und in ihrem Boudoir an meinen Augenbrauen … Josephine selbst beugte sich mit einer Pinzette über mein Gesicht und rupfte meine dichten Augenbrauen aus, es tat sehr weh, aber die schmalen gewölbten Linien ließen meine Augen viel größer erscheinen. Dann kramte sie zwischen Tiegeln und Puderdosen herum und fand ein Töpfchen Goldschminke und legte etwas Gold auf meine Augenlider und betrachtete dann im Spiegel mein neues Gesicht. In diesem Augenblick fand ich die Morgenausgabe des »Moniteur«. Das Blatt lag zerknittert unter Bändern und Haarkämmen auf dem Toilettentisch. Ein roter Fleck war darüber geschmiert. Ich begann zu lesen. Es war das 29. Bulletin des Kaisers Napoleon. Dieses 29. Bulletin, in dem er der Öffentlichkeit mitteilt, dass seine große Armee in den russischen Schneewüsten erschossen, erfroren, verhungert und begraben liegt. Es gibt keine große Armee mehr. Der rote Fleck sah wie ein Blutstropfen aus, war aber nur Lippenschminke. »So müssen Sie sich herrichten, wenn Sie in der Öffentlichkeit erscheinen, Désirée«, sagte Josephine. »Schmale, gewölbte Augenbrauen, etwas Grün auf die Augenlider und vor allem Goldschminke. Wenn Sie sich dem Volk von einem Fenster oder einem Balkon aus zeigen, müssen Sie immer auf einem
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