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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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wäre, würde er in ein paar Jahren einberufen werden. Wie ertragen es die anderen Mütter? Marie strickt, und der Schnee in Russland fällt unaufhaltsam weich und sanft und begräbt die Söhne … In diesemAugenblick hörte ich den Wagen. Er hielt vor meinem Haus. Dann wurde donnernd an die Tür gepocht. »Die Dienerschaft ist schon schlafen gegangen«, sagte ich. Marie ließ das Strickzeug sinken. »Der schwedische Kutscher in der Pförtnerwohnung wird öffnen«, meinte sie. Wir lauschten mit angehaltenem Atem. Hörten Stimmen in der Halle. »Ich bin für niemanden zu sprechen, ich habe mich schon zurückgezogen«, sagte ich schnell. Graf von Rosen verließ den Salon. Gleich darauf hörte ich sein hartes Französisch. Eine Tür wurde geöffnet. Er begleitete jemanden in den großen Salon nebenan. Ist er verrückt geworden? Ich habe ihm doch gesagt, dass ich niemanden mehr empfange. »Du musst sofort hineingehen und mitteilen, dass ich schlafen gegangen bin, Marie!« Marie stand sofort auf und trat durch die Verbindungstür in den großen Salon. Ich hörte, dass sie einen Satz begann und sofort verstummte. Nebenan war es jetzt ganz still. Unbegreiflich, wen man zu dieser späten Stunde gegen meinen Wunsch hereinlässt … Ich hörte Papier rascheln und Holzscheite fallen. Der Kutscher machte Feuer im großen Kamin. Es war das einzige Geräusch, das zu mir drang. Sonst herrschte nebenan tiefe Stille.
    Endlich ging die Tür auf, Graf von Rosen trat ein. Seine Bewegungen waren seltsam steif und förmlich. »Seine Majestät, der Kaiser.«
    Ich zuckte zusammen. Glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
    »Wer –?«
    »Seine Majestät ist in Begleitung eines Herrn eingetroffen und wünscht Königliche Hoheit zu sprechen.«
    »Der Kaiser ist doch an der Front«, flüsterte ich verwirrt.
    »Seine Majestät ist soeben zurückgekehrt.« Der junge Schwede war ganz blass vor Erregung. Inzwischen war ichruhig geworden. Unsinn, ich lasse mich nicht einschüchtern, ich lasse mich auch nicht in diese entsetzliche Situation bringen, ich will ihn nicht wieder sehen, zumindest nicht jetzt, nicht allein …
    »Sagen Sie Seiner Majestät, dass ich schlafen gegangen bin!«
    »Das habe ich Seiner Majestät bereits gesagt. Seine Majestät besteht darauf, Hoheit sofort zu sprechen.« Ich rührte mich nicht. Was sagt man einem Kaiser, der seine Armee in den russischen Schneefeldern im Stich lässt? Nein, nicht im Stich lässt, es gibt ja keine Armee mehr. Er hat die Armee verloren. Und kommt zuerst zu mir … Ich stand langsam auf, strich mir die Haare aus der Stirn, es fiel mir ein, dass ich den alten Samtschlafrock trug und darüber den Zobelpelz und sicherlich ganz lächerlich aussah. Widerwillig ging ich auf die Tür zu. Jetzt weiß er, dass Jean-Baptiste mit dem Zaren verbündet ist und ihm geraten hat, sich zu verteidigen. Jetzt weiß er, dass Jean-Baptistes Ratschläge befolgt worden sind. »Ich habe Angst, Graf von Rosen«, gestand ich. Der junge Schwede schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Hoheit müssen gar keine Angst haben.« Es war sehr hell im großen Salon. Marie setzte gerade Kerzen in den letzten der hohen Kandelaber. Das Feuer flackerte. Auf dem Sofa unter dem Porträt saß Graf Caulaincourt, der Großstallmeister des Kaisers, einst dritter Adjutant des Ersten Konsuls. Caulaincourt trug einen Schafspelz und ein wollene Mütze, die er über die Ohren gezogen hatte. Er hielt die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Der Kaiser stand dicht vor dem Feuer und stützte die Arme auf dem Kaminsims auf. Die Schultern sackten vornüber, er schien so müde zu sein, dass er sich aufstützen musste, um überhaupt stehen zu können. Eine graue Persianermütze saß schief auf dem Kopf. Er sah völlig fremd aus. Keiner der beiden hörte micheintreten. »Sire –«, sagte ich leise und trat neben den Kaiser. Caulaincourt fuhr auf, riss sich die Wollmütze ab und stand stramm. Der Kaiser hob langsam den Kopf. Ich vergaß, mich zu verneigen. Fassungslos starrte ich in sein Gesicht. Zum ersten Mal im Leben sah ich Napoleon unrasiert. Die Bartstoppeln waren rötlich, die aufgedunsenen Wangen schlaff und grau. Der Mund war schmal wie ein Strich, und das Kinn sprang abgemagert spitz hervor. Blicklos richteten sich die Augen auf mich. »Graf von Rosen, man hat vergessen, Seiner Majestät die Mütze abzunehmen«, bemerkte ich scharf. »Übrigens auch den Pelz.«
    »Mir ist kalt, ich behalte den Mantel an«, murmelte Napoleon und streifte

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