Désirée
sprechen. Mehr zu diesem Bild als zu mir. »Wissen Sie eigentlich, woher ich komme, Madame? Ich komme aus den Steppen, in denen meine Soldaten begraben liegen. Dort schleppen sich die Husaren Murats durch den Schnee. Die Kosaken haben ihre Pferde erschossen. Die Husaren sind schneeblind und wimmern vor Schmerzen. Wissen Sie überhaupt, was das ist, schneeblind, Madame? Ich komme von der Brücke, die unter DavoutsGrenadieren zusammengebrochen ist, die Eisschollen haben den Grenadieren den Schädel eingeschlagen, das Eiswasser färbte sich rot. Manche Männer kriechen jede Nacht unter die Leichen ihrer Kameraden, um sich zu wärmen. Ich habe –«
»Wie kann ich ihm den Schal schicken – wie?« Maries Schrei zerschnitt seine Worte. Marie war aufgesprungen und stürzte sich auf den Kaiser, fiel vor ihm auf die Knie und krallte sich an seinen Arm. »Ich stricke meinem Pierre einen warmen Schal, er kann ihn auch über die Ohren schlagen, ich weiß nur nicht, wie ich ihn schicken soll. Majestät haben Kuriere – Majestät, helfen Sie einer Mutter, lassen Sie einen Kurier –« Angeekelt fuhr Napoleon zurück. Aber Marie rutschte ihm nach und bohrte ihre Finger in seine Arme. Schnell beugte ich mich über sie. »Es ist Marie, Sire, Marie aus Marseille. Ihr Sohn ist in Russland.« Napoleon riss sich los. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Ich habe aufgeschrieben, bei welchem Regiment er ist, er ist leicht zu finden –«, wimmerte Marie. »Diesen Schal, nur diesen warmen –«
»Sind Sie wahnsinnig, Frau?« Speichelbläschen standen in Napoleons Mundwinkeln. »Einen Schal soll ich nach Russland schicken, einen Schal! Es ist zum Lachen …« Und er begann zu lachen. Schüttelte sich vor Lachen, keuchte vor Lachen, stöhnte vor Lachen. »Einen Schal für meine hunderttausend Toten, für meine erfrorenen Grenadiere, einen schönen warmen Schal für meine große Armee –« Tränen standen ihm in den Augen – vor Lachen. Ich führte Marie zur Tür. »Geh schlafen, Liebste, geh jetzt schlafen.« Napoleon war verstummt. Hilflos stand er in der Mitte des Salons. Ging dann mit seltsam steifen Schritten auf den nächsten Stuhl zu und sackte zusammen. »Verzeihen Sie, Madame, ich bin sehr müde.« Die Minuten tropften, keiner von uns rührte sich. Das ist das Ende,dachte ich. Meine Gedanken wanderten über den Kontinent und über eine Meerenge zu Jean-Baptiste im Königlichen Schloss in Stockholm. Eine klare, harte Stimme. »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Brief an den Marschall Bernadotte zu diktieren, Madame.« »Ich bitte, diesen Brief von einem der Sekretäre Eurer Majestät schreiben zu lassen.« »Ich wünsche, dass Sie diesen Brief schreiben, Madame. Es ist ein sehr persönliches Schreiben und gar nicht lang. Teilen Sie dem schwedischen Kronprinzen mit, dass Wir nach Paris zurückgekehrt sind, um die endgültige Niederlage der Feinde Frankreichs vorzubereiten.« Der Kaiser war aufgestanden. Begann auf und ab zu gehen und betrachtete den Fußboden. Dort schien die Landkarte Europas ausgebreitet zu liegen. Mit ungeputzten Stiefeln marschierte er darüber. »Wir erinnern den schwedischen Kronprinzen an den jungen General Bernadotte, der im Frühling 1797 dem General Bonaparte mit seinen Regimentern zu Hilfe eilte. Dieser in kürzester Zeit vorgenommene Übergang über die Alpen entschied den siegreichen Ausgang des italienischen Feldzuges. Werden Sie das behalten, Madame?« Ich nickte. Der Kaiser wandte sich an Caulaincourt. »Bernadottes Übergang über die Alpen wird in allen Militärakademien als Vorbild gelehrt. Meisterhaft durchgeführt. Meisterhaft … Er brachte mir Regimenter von der Rheinarmee, die ursprünglich unter Moreaus Kommando standen.« Er brach ab. Ein Holzscheit krachte. Moreau im Exil. Jean-Baptiste Kronprinz von Schweden. »Erinnern Sie Bernadotte zuerst an das Ersatzheer, das er mir nach Italien brachte. Dann an die Schlachten, in denen er die junge Republik verteidigt hat. Schließlich an das Lied ›Le Régiment de Sambre et Meuse marche toujours aux cris de la liberté, suivant la route glorieuse …‹ Schreiben Sie ihm, dass ich das Lied vor vierzehn Tagen im russischen Schnee gehört habe, zwei Grenadiere, die nichtmehr weiterkonnten, scharrten sich im Schnee ein. Während sie die Wölfe erwarteten, sangen sie dieses Lied … Es muss sich um ehemalige Kameraden Ihres Mannes von der Rheinarmee gehandelt haben. Vergessen Sie nicht, diesen Vorfall zu erwähnen.« Ich bohrte meine Nägel in die
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