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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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»Guten Abend, Pierre!« Er starrte vor sich hin. »Pierre – erkennen Sie mich nicht?«
    »Natürlich«, murmelte er gleichgültig. »Madame la Maréchale.« Ich beugt mich über ihn. »Ich bin gekommen, um Sie abzuholen. Wir fahren nach Hause, Pierre, jetzt gleich. Zu Ihrer Mutter!« Sein Gesicht veränderte sich nicht. »Pierre – freuen Sie sich nicht?« Keine Antwort. Hilflos wandte ich mich an die Nonne. »Das ist mein Pierre Dubois. Der, den ich suche. Ich möchte ihn gern bei mir zu Hause gesund pflegen. Seine Mutter wartet dort auf ihn. Ich habe unten einen Wagen. Vielleicht kann mir jemand helfen?« »Die Porteure sind schon nach Hause gegangen. Sie müssen bis morgen warten, Madame!« Aber ich wollte Pierre nicht einen Augenblick länger hier lassen. »Ist er sehr schwer verletzt? Vor der Tür wartet mein Adju– ein Herr auf mich, wir beide können Pierre Dubois stützen, wenn er nur die Treppe hinuntergehen kann, dann –« Da hob die Nonne meine Hand mit der Kerze in die Höhe. Licht fiel auf die Bettdecke.
    Wo Pierres Beine liegen sollten, war sie flach. Ganz flach. »Ich habe unten einen Kutscher, der kann mir helfen«, sagte ich mühsam. »Ich komme sofort zurück, Schwester.« Eine Gestalt löste sich von der Wand neben der Tür. »Rufen Sie unseren Kutscher herauf, Graf. Ermuss Pierre in den Wagen tragen. Hier – nehmen Sie meine Kerze. Bringen Sie alle Decken mit, die wir im Wagen haben!« Dann wartete ich. Nicht mehr und nie wieder gehen können, dachte ich. So sieht es also aus im Hotel zum lieben Gott. Der eine lernt hier beten, und der andere übergibt sich. Die ganze Welt kommt mir vor wie ein Hotel zum lieben Gott. Und das haben wir aus ihr gemacht. Wir Mütter von Söhnen und ihr Söhne von Müttern. Ihre Tritte hallten. Ich zog Rosen und den Kutscher in den Saal. »Bitte helfen Sie uns, Schwester – wir müssen ihn in warme Decken packen! Dann wird ihn Johansson –«, ich stieß den Kutscher etwas vor. »Dann wird ihn Johansson hinuntertragen!« Die Schwester zog Pierre an den Schultern hoch. Er konnte sich nicht wehren. Seine Augen brannten vor Hass. »Lassen Sie mich in Ruhe, Madame. Lassen Sie mich doch –« Die Nonne schlug die Bettdecke zurück. Ich presste die Augen zusammen und leuchtete ihr. Als ich die Augen wieder öffnete, lag Pierre Dubois wie ein zusammengeschnürtes Paket vor mir. Jemand zupfte mich am Mantel. Ich wandte mich um. Der Mann im Nebenbett versuchte sich aufzurichten. Aber er fiel kraftlos zusammen. Ich beugte mich über ihn. »Madame la Maréchale? So hat er Sie genannt, nicht wahr? Welche Madame la Maréchale?«
    »Bernadotte«, flüsterte ich. Er winkte mich noch näher. Ein irres Lächeln verzerrte seinen Mund, fieberheiße Lippen berührten beinahe mein Ohr. »Das habe ich mir gedacht … habe Bilder gesehen, seinerzeit … Bestellen Sie dem Herrn Gemahl im Königsschloss in Stockholm den Gruß eines Soldaten vom Alpenfeldzug …« Er kämpfte um Atem. »Sagen Sie dem Herrn Marschall in Stockholm, dass die Alpen tiefe Abgründe haben … und dass er niemals lebend über die Alpen gekommen wäre, wenn wir gewusst hätten –«, blutige Schaumbläschen zitterten aufseinen Lippen, »– gewusst hätten, dass er uns in Russland verrecken lassen wird … Ein Gruß, Madame – von einem alten Kameraden …« Eine Hand legte sich schützend unter meinen Arm. »Sein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden. Kommen Sie, Madame.« Der Kutscher hob das Paket auf, das einmal Pierre Dubois war und mit einer roten Rosenknospe im Gewehrlauf lachend ausgezogen ist, um die Welt zu erobern, und schleppte es aus der Tür. Graf von Rosen nahm mir die Kerze ab und leuchtete ihm. Aber ich klammerte mich wie ein Kind an die Nonne und ließ mich von der alten Frau die Treppe hinunterführen. »Sie sind doch gar nicht mehr die Marschallin Bernadotte, sondern die Kronprinzessin von Schweden?«, fragte sie plötzlich. Ich schluchzte auf. »Gehen Sie mit Gott, mein Kind, und suchen Sie mit Ihrem Volk den Frieden.« Dann ließ sie meinen Arm los. Der Invalide öffnete schweigend das Tor. Johansson keuchte unter seiner Last. Ich wandte mich um, um der alten Nonne die Hand zu küssen. Aber sie war bereits im Dunkel verschwunden. Graf von Rosen saß auf dem Rücksitz. Das Paket, das einmal Pierre Dubois war, lag neben mir. Ich tastete über die Decken und suchte seine Hand. Sie war kalt und schlaff. So brachte ich Marie ihren Sohn zurück.

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    Paris, Anfang April

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