Désirée
zwischen Betten und Strohsäcken standen. Ich gab mir einen Ruck. »Wir müssen vonBett zu Bett gehen«, sagte ich zu von Rosen. Und dann gingen wir von Bett zu Bett, von Strohsack zu Strohsack, leuchteten in jedes Gesicht.
Unschlüssig stand ich vor verbundenen Augen und Nasen, sah lange die blutig gebissenen Lippen an, vielleicht – nein, doch nicht. Stand vor dem Mann, der zwischen jedem Atemzug Schluckauf hatte wie jener General Duphot, der in meinen Armen vor vielen Jahren gestorben ist, sah einen wachsgelben Mund lächeln und ging weiter; der Mann lächelt nur, weil er gerade gestorben ist, sein Nachbar riss geblendet die Augen auf, öffnete den Mund zu einer Bitte, aber ich hielt schon beim nächsten und konnte die Bitte nicht mehr hören. Diese Suche muss ich dir ersparen, Marie, das ist mehr, als eine Mutter ertragen kann. Das vorletzte Bett, das letzte, die Tür. Pierre war nicht in diesem Saal. Wir traten in den Nächsten. Ich hob den Rock, leuchtete ins Gesicht auf dem ersten Strohsack, dem zweiten, zauderte vor verbundenen Kopfschüssen, schloss die Augen vor dem Gesicht mit dem zerschmetterten Kinn und riss sie wieder auf und sah es an. Vielleicht – nein, bestimmt nicht, weitersuchen, weitersuchen … Erst als wir bereits am Ende des Saales angelangt waren, bemerkte uns die Nonne. Sie war noch sehr jung, ihre Augen waren voll Mitleid. »Suchen Sie Ihren Gatten, Madame?« Ich schüttelte den Kopf. Der Schein meiner Kerze fiel auf einen abgezehrten Arm mit einer kleinen runden Wunde. Der Rand der Wunde war verkrustet. Die Krusten bewegten sich, waren Läuse. »Diese Wunden schließen sich von selbst, wenn die Soldaten wieder genug zu essen bekommen«, sagte die weiche Stimme der Schwester. »Auf dem Rückzug sind so viele verhungert. Aber vielleicht finden Sie doch noch jenen, den Sie suchen, Madame!« Pierre war auch nicht in diesem Saal. Auf dem Korridor lehnte sich von Rosen plötzlich an die Wand. Ich hob die Kerze. Aufseiner Stirn standen Schweißtropfen. Schnell wandte er sich um, taumelte ein paar Schritte und erbrach sich. Ich hätte ihn gern getröstet. Aber das hätte ihn in schreckliche Verlegenheit gebracht. Blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis sein Magen leer war. Während ich wartete, bemerkte ich ein rotes Ewigkeitslicht. Ich ging langsam auf das Licht zu. Es brannte unter einer Madonnenstatue. Es war eine sehr einfache Muttergottes in einem blauweißen Gewand, sie hatte rote runde Wangen und traurige Augen. Das Bübchen in ihrem Arm war sehr rosa und lachte. Ich stellte meine Kerze auf den Fußboden und faltete die Hände. Das habe ich seit vielen Jahren nicht mehr getan. Das kleine rote Licht flackerte, aus den vielen Türen sickerte der Jammer, ich presste die Hände zusammen. Dann hörte ich Schritte hinter mir und hob die Kerze auf. »Ich bitte untertänigst um Vergebung, Hoheit«, murmelte mein junger Schwede beschämt. Ich warf meiner Madonna noch einen letzten Blick zu. Ihr pausbäckiges Gesicht war wieder im Schatten. Wir Mütter, dachte ich, wir Mütter … Vor der nächsten Tür sagte ich: Bleiben Sie lieber draußen, ich gehe allein hinein.« Er zögerte. »Ich möchte diesen Weg mit Hoheit bis zu Ende gehen.« »Sie werden diesen Weg mit mir zu Ende gehen, verlassen Sie sich darauf, Herr Graf«, sagte ich ruhig und ließ ihn stehen. Die Betten an der rechten Seite hatte ich bereits abgeleuchtet. Am Ende des Raumes saß eine alte Nonne und las in einem schwarzen Büchlein. Auch sie blickte mich ohne Überraschung an. Im Hotel zum lieben Gott kennt man keine Überraschungen. »Ich suche einen gewissen Pierre Dubois«, sagte ich und hörte selbst, wie hoffnungslos meine Stimme klang. »Dubois? Ich glaube, wir haben zwei Dubois hier. Der eine –« Sie nahm mich bei der Hand und zog mich zu einem Strohsack in der Mitte des Raumes. Ich kniete nieder und leuchtete in ein abgezehrtes Gesicht,von wirren, weißen Haarsträhnen umgeben. Die knochigen Fäuste pressten sich auf den Bauch, die Knie waren hochgezogen, betäubender Gestank stieg auf. Die feste Hand der alten Nonne zog mich hoch. »Böser Bauchlauf, wie die meisten. Sie haben von Schneewasser und rohem Pferdefleisch gelebt. Ist es ihr Dubois?« Ich schüttelte den Kopf. Da führte sie mich zur linken Wand. Zum letzten Bett. Ich trat ans Kopfende und leuchtete. Die dunklen Augen waren weit offen und stierten mich gleichgültig an. Die aufgesprungenen Lippen hatten blutige Risse. Ich ließ die Kerze sinken.
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