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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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sich erst um, als ich schon den halben Weg zum großen Schreibtisch zurückgelegt hatte. Napoleon dachte gar nicht daran, meinem sporenklirrenden von Rosen und mir den wohl bekannten langen Leidensweg von der Tür bis zu seinem Schreibtisch zu ersparen. Er trug die grüne Uniform der Chasseure, stand mit verschränkten Armen vor dem Schreibtisch, lehnte sich etwas an und blickte mir mit leicht angeekeltem Lächeln entgegen. Ich verneigte mich und reichte ihm wortlos das versiegelte Schreiben. Der Siegellack krachte. Der Kaiser las, ohne die Miene zu verziehen. Dann reichte er die Bogen, die dicht mit Jean-Baptistes Handschrift bedeckt waren, Meneval. »Eine Abschrift im Archiv des Außenministeriums hinterlegen, das Original bei meinen Privatpapieren aufbewahren!« Und zu mir: »Sie haben sich herausgeputzt, Hoheit. Violett steht Ihnen gut. Übrigens – ein seltsamer Hut. Trägt man jetzt hohe Hüte?« Das war ärger als der Wutausbruch, den ich erwartet hatte. Das war offener Hohn, Hohn, der nicht mir galt, sondern dem Kronprinzen vonSchweden. Ich presste die Lippen zusammen. Napoleon wandte sich zu Talleyrand. »Sie verstehen doch etwas von schönen Frauen, Exzellenz? Wie gefällt Ihnen der neue Hut der Kronprinzessin von Schweden?« Talleyrand hielt die Augen halb geschlossen. Er schien sich unsagbar zu langweilen. Napoleon wandte sich wieder zu mir. »Haben Sie sich für mich so schön gemacht Hoheit?« – »Ja, Sire.« – »Und Veilchen angesteckt, um mir diesen –«, er atmete höhnisch durch die Nase, »– diesen Papierwisch des ehemaligen Marschalls Bernadotte zu überbringen? Veilchen, Madame, blühen im Verborgenen und duften süß. Aber dieser Verrat, über den bereits alle englischen und russischen Zeitungen frohlocken, stinkt zum Himmel, Madame! » Ich verneigte mich. »Ich bitte, mich verabschieden zu dürfen, Sire.«
    »Sie dürfen sich nicht nur verabschieden, Madame, Sie müssen sich sogar verabschieden«, brüllte er. »Oder glauben Sie, dass ich Sie weiter bei Hof ein und aus gehen lasse, während Bernadotte gegen mich ins Feld zieht? Und mit Kanonen auf die Regimenter schießen lässt, die er selbst in unzähligen Schlachten befehligt hat! Sie dagegen wagen es, Madame, hier zu erscheinen – mit Veilchen geschmückt!«
    »Sire, Sie haben mich in jener Nacht, als Sie aus Russland zurückkehrten, sehr dringend ersucht, an meinen Mann zu schreiben und Ihnen seine Antwort zu überbringen. Ich habe eine Abschrift seines Briefes gelesen und bin mir klar darüber, dass Sie mich zum letzten Mal sehen, Sire. Die Veilchen habe ich mir angesteckt, weil sie mir gut stehen. Vielleicht behalten Sie mich dadurch in angenehmer Erinnerung, Sire. Darf ich mich jetzt – für immer – verabschieden?« Eine Pause entstand. Eine schrecklich peinliche Pause. Graf von Rosen stand steif wie eine Statue hinter mir. Meneval und Caulaincourt starrten den Kaisererstaunt an. Talleyrand öffnete interessiert die Augen. Napoleon war plötzlich verlegen geworden und sah sich unruhig suchend um. »Ich bitte die Herren, hier zu warten, ich möchte einen Augenblick allein mit Ihrer Königlichen Hoheit sprechen«, murmelte er schließlich. »Bitte, mir in mein Arbeitszimmer zu folgen, Hoheit!« Er wies auf eine Tapetentür. »Meneval, schenken Sie den Herren doch ein Glas Likör ein!« Ich sah noch, wie Meneval den Wandschrank öffnete, dann trat ich in denselben Raum, in dem ich vor Jahren vergeblich um das Leben des Herzogs von Enghien gebeten hatte. Hier hatte sich nicht viel verändert. Dieselben Tischchen, dieselben Aktenstöße. Wahrscheinlich enthielten sie andere Akten. Auf dem Teppich vor dem Kamin lagen Holzklötzchen in verschiedenen Farben. Die Klötzchen waren mit Zacken versehen. Unwillkürlich bückte ich mich und hob ein rotes auf. »Was ist das? Spielzeug des Königs von Rom?« »Ja – und nein. Ich benutze diese Klötzchen, wenn ich einen Feldzug vorbereite. Sehen Sie, jedes von ihnen stellt ein bestimmtes Korps dar. Und die Zacken bedeuten die Divisionen, über die das betreffende Korps verfügt. Das rote Klötzchen, das Sie in der Hand halten, ist das dritte Korps – das Korps des Marschalls Ney. Es hat fünf Zacken, das Korps Ney umfasst fünf Divisionen. Und hier – das blaue Klötzchen mit den drei Zacken: sechstes Korps, Korps Marmont, drei Divisionen. Wenn ich die Klötzchen auf dem Fußboden aufstelle, sehe ich eine Schlachtordnung ganz deutlich vor mir, die Landkarte habe ich im Kopf, es ist

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