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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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1819.
    I n einer halben Stunde werde ich ihn zum letzten Mal im Leben sprechen, dachte ich und legte etwas Goldschminke auf die Augenlider. Dann ist diese lange Bekanntschaft, die als erste Liebe begann, vorüber … Ich schminkte meine Lippen mit dem tiefen Zyklamenrot und setzte den neuen Hut auf, einen hohen schmalen Hut, den ich unter dem Kinn mit einer rosa Schleife festband und von dem ich nicht ganz sicher war, ob er mir stand. Dann sah ich lange in den Spiegel. So wird er mich also in Erinnerung behalten, eine Kronprinzessin mit goldenen Augenlidern, einem violetten Samtkostüm, einem Strauß blasser Veilchen am Ausschnitt. Und einem neuen Hutmodell mit rosa Schleife. Ich hörte, wie Graf von Rosen nebenan die La Flotte fragte, ob ich nicht endlich fertig sei. Ich rückte meine Veilchen zurecht. In einer halben Stunde endet die persönliche Bekanntschaft mit meiner ersten Liebe … gestern Abend hat mir mein Kurier aus Stockholm Jean-Baptistes Antwortschreiben an Napoleon gebracht. Das Antwortschreiben war versiegelt, aber Graf Brahe hatte eine für mich bestimmte Abschrift beigelegt. Graf Brahe teilte mir auch mit, dass dieser Brief des schwedischen Kronprinzen an Napoleon allen Zeitungen zur Veröffentlichung zugestellt wird. Ich stand auf und las zum letzten Mal die Abschrift durch …
    »Die Leiden des Kontinents fordern Frieden, und Eure Majestät können diese Forderung nicht ablehnen, ohne die Summe der Verbrechen, die Sie bereits begangen haben, zehnfach zu vermehren. Was hat Frankreich als Entschädigung für seine ungeheuren Opfer erhalten? Nichts anderes als militärischen Ruhm, äußeren Glanz und tatsächliches Unglück innerhalb der Grenzen des Reiches …« Unddiesen Brief soll ich Napoleon überreichen. So etwas kann auch nur mir passieren. Mir wurde ganz heiß vor Angst, während ich weiterlas – »Ich bin in dem schönen Frankreich, das Sie regieren, geboren. Seine Ehre und sein Wohlstand können mir niemals gleichgültig werden. Aber ohne aufzuhören, für sein Wohlergehen zu beten, werde ich doch stets mit allen Hilfsmitteln das Recht jenes Volkes, das mich berief, und die Ehre jenes Regenten, der mich als seinen Sohn anerkennen wollte, verteidigen. In diesem Kampf zwischen Welttyrannei und Freiheit will ich den Schweden sagen: Ich kämpfe mit euch und für euch, und alle freiheitsliebenden Völker segnen unseren Schritt. Was meinen persönlichen Ehrgeiz betrifft, so verhält es sich folgendermaßen – ich bin ehrgeizig, sogar sehr ehrgeizig. Aber ehrgeizig, den Interessen der Menschheit zu dienen und die Selbständigkeit der skandinavischen Halbinsel zu erobern und zu gewähren.« Dieser Brief, den Jean-Baptiste nicht nur an Napoleon, sondern an die ganze französische Nation und die Nachwelt gerichtet hat, endet mit einem sehr persönlichen Satz: »Unabhängig von dem Entschluss, den Sie fassen, Sire, ob es sich um Krieg oder Frieden handelt, bewahre ich stets für Eure Majestät die Ergebenheit eines alten Kriegskameraden.« Ichlegte die Abschrift auf den Nachttisch zurück und stand auf. Graf von Rosen wartet. Ich bin für fünf Uhr nachmittags in die Tuilerien bestellt worden. Der Kaiser zieht bereits in den nächsten Tagen mit seiner neuen Armee ins Feld. Die Russen rücken vor, die Preußen schließen sich ihnen an. Napoleons Entschluss ist längst gefasst. Ich nahm das versiegelte Schreiben und rückte den hohen Hut zurecht. Graf von Rosen trug die Paradeuniform der schwedischen Dragoner und seine Adjutantenschärpe. »Sie begleiten mich auf schweren Wegen, Graf«, sagte ich, als wir über den Pont Royal rollten. Seit jener Nacht im Spital herrscht eineseltsame Vertraulichkeit zwischen uns. Wahrscheinlich, weil ich dabei war, wie er sich übergeben hat. Diese Dinge verbinden mehr, als man glaubt. Wir fuhren im offenen Wagen, es roch nach Frühling, die Dämmerung war sehr blau und ließ alle Umrisse weich erscheinen. Jetzt sollte man ein Rendezvous haben, dachte ich, ein flüchtiges und heimliches Rendezvous, für das man sich Veilchen angesteckt und einen neuen Hut gekauft hat. Stattdessen muss ich dem Kaiser der Franzosen einen für die Nachwelt bestimmten Brief des Kronprinzen von Schweden überreichen und einen napoleonischen Wutausbruch über mich ergehen lassen. Schade um die süße Dämmerung … Nicht eine Minute mussten wir warten. Der Kaiser empfing uns in seinem großen Arbeitszimmer. Caulaincourt und Meneval waren anwesend. Graf Talleyrand lehnte am Fenster und wandte

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