Désirée
Die Theater sind leer. Die Restaurants dunkel. Mit geducktem Kopf erwartet Paris den Gnadenstoß. Und da geschieht das Wunder: Die Siegesglocken läuten. Ich kleidete mich an und ging in den Garten. Eine Biene summte. Zuerst beachtete ich es nicht. Aber dann fuhr ich zusammen und lauschte. Ja – es war totenstill geworden. Die Glocken waren verstummt. Die Kanonen schwiegen. Nur eine Biene summte. Ich war froh, als ich den Fremden sah. Nur jetzt nicht allein sein in dieser atemlosen Stille. Der Fremde war in Zivil, schmalschultrig, unbestimmten Alters. Ich ging ihm entgegen. Das magere Gesicht war von vielen Fältchen zerknittert. Dann begegnete ich dem kurzsichtigen Blick: Lucien Bonaparte. Lucien, der ins Exil ging, als Napoleon Kaiser wurde. Der in all diesen Jahren in England gelebt hat. Wie seltsam, dass er gerade jetzt zurückgekommen ist. »Sie erinnern sich doch nochan mich, Désirée? Ich war bei Ihren Verlobungen dabei.« Wir setzten uns auf eine Bank. »Warum sind Sie zurückgekommen, Lucien?«
»Ja, warum … Nach der Restauration war ich der einzige Bonaparte, der machen konnte, was er wollte. Ich wäre gern in England geblieben. Dann hörte ich von seiner Rückkehr.« Lucien lehnte sich zurück und blickte verträumt in den Garten. »Wie schön so ein Fleckchen Rasen ist. So still, so wunderbar still!«
»Die Siegesglocken sind gerade verstummt.«
»Die waren nämlich ein Irrtum, Désirée!« Er sah einem Schmetterling nach. »Der brave Marschall Davout, den Napoleon in Paris zurückgelassen hat, um die Moral der so genannten Heimatfront zu stärken, hat sie zu früh läuten lassen. Napoleon hat nur ein Gefecht – die Ouvertüre zu einer großen Schlacht – gewonnen. Das Dorf Charleroi ist eingenommen worden. Aber die Entscheidung fiel bei Ligny und Waterloo. Und diese Schlacht hat Napoleone verloren. Beobachten Sie doch, wie dieser blaue Schmetterling –« »Und der Kaiser?«
»Wird heute Abend in aller Stille in Paris ankommen. Ohne Aufsehen zu erregen. Sie verstehen? Er wird im Élysée bei Joseph und Julie absteigen. Nicht in den Tuilerien, die Säle dort sind so groß und so leer. Für jeden mutigen Franzosen ist der Augenblick gekommen, um zu siegen oder zu sterben – Sie haben doch seine schönen Worte gelesen? Ich glaube, es ist ihm peinlich, weder gesiegt zu haben noch gestorben zu sein.«
»Und die Armee, Lucien?«
»Welche Armee?«
»Seine Armee – die französische!«
»Aber es gibt doch keine Armee mehr. Von seinen hunderttausend Mann sind sechzigtausend gefallen … Ich bin eigentlich nicht gekommen, um Ihnen das alles zuerzählen, ich wollte Sie nur bitten – wenn alles vorüber ist und Sie wieder an Jean-Baptiste Bernadotte schreiben können, dann grüßen Sie ihn von mir. Ich denke oft an ihn.«
»Lucien, warum sind Sie gerade jetzt zu mir gekommen?«
»Um irgendwo zehn ruhige Minuten zu verbringen. Die Regierung ist bereits informiert. Und die Nationalversammlung tagt permanent wie in den Tagen der Revolution.« Er stand auf. »Ich muss jetzt gehen und weitere Kuriere abwarten.« Aber ich hielt ihn zurück. »Dieser Lafayette, Lucien – ist dieser Abgeordnete Lafayette derselbe Mann, der die Menschenrechte verkündet hat?« Er nickte. »Ich habe geglaubt, Lafayette ist längst gestorben. Warum hat man nie etwas von ihm gehört?«
»Weil er sich mit seinem Gemüsegarten beschäftigt hat. Auf einem kleinen, sehr bescheidenen Landgut, Désirée. Seinerzeit, als der Pöbel die Tuilerien stürmte und die abgeschlagenen Köpfe der Adeligen auf Stangen herumgetragen wurden, hat der Abgeordnete Lafayette protestiert. Daraufhin wurde gegen ihn selbst ein Haftbefehl erlassen, Lafayette musste fliehen und wurde von den Österreichern aufgegriffen. Die haben ihn dann jahrelang gefangen gehalten. Erst zur Zeit des Konsulates wurde er freigegeben und kehrte nach Frankreich zurück.«
»Und dann, Lucien?«
»Dann hat er seinen Gemüsegarten bestellt, Karotten, Tomaten und wahrscheinlich auch Spargel. Der Mann hat doch sein Leben lang für die Menschenrechte gekämpft – glauben Sie, dass er mit dem Ersten Konsul etwas zu tun haben wollte? Oder mit dem Kaiser Napoleon?« Ich begleitete Lucien durch den Garten. Vertraulich schob er seinen Arm unter den meinen. »Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht. Seinerzeit im Brumaire war ich es, der im Rat der Fünfhundert für ihn gesprochen hat.« Er senkte den Kopf.»Aber damals habe ich noch an ihn geglaubt.« – »Und
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