Désirée
…?«
Im Geist sah ich Josephine vor mir – silberner Blick, kindliche Locken, überlegenes Lächeln. Und vor mir stand Madame Letitia mit roten abgearbeiteten Händen und dem faltigen Hals einer Frau, die ihr Leben lang Wäsche gewaschen und Kinder ausgezankt hat. Die harten Finger umklammerten ein Bündel Banknoten. Der Militärgouverneur von Paris hat seiner Mutter sofort einenTeil seiner neuen Gage geschickt. Später wurde ich auf die Ruhebank im Wohnzimmer gebettet und hörte zu, wie sie über die großen Ereignisse sprachen. Etienne holte seinen besten Likör hervor und sagte, er sei stolz, mit dem General Bonaparte verwandt zu sein. Mama und Suzanne beugten sich über Handarbeiten. »Ich fühle mich wieder ganz wohl«, sagte ich. »Könnt ihr mir nicht eine meiner angefangenen Servietten bringen? Ich möchte an den Monogrammen für meine Ausstattung weitersticken.« Niemand widersprach. Aber als ich an einem B zu sticken begann – B, B und wieder B –, trat verlegene Stille ein. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ein Abschnitt meines Lebens vorüber sei. »Von heute an möchte ich nicht mehr Eugénie gerufen werden«, sagte ich unvermittelt. »Ich heiße doch Eugénie Bernadine Désirée, und mir gefällt der Name Désirée am besten. Könnt ihr mich nicht Désirée nennen?« Da warfen sie einander ganz besorgte Blicke zu. Ich glaube, sie zweifeln an meinem Verstand.
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Rom, drei Tage nach Weihnachten
im Jahr V.
(Hier in Italien hält man sich
noch an die vorrepublikanische
Zeitrechnung: 27. Dezember 1797.)
S ie haben mich mit dem Sterbenden allein gelassen.
Der Sterbende heißt Jean Pierre Duphot, ein General in Napoleons Stab. Er kam heute nach Rom, um mir einen Heiratsantrag zu machen. Vor zwei Stunden hat ihn eine Kugel in den Magen getroffen. Wir haben ihn auf das Sofa in Josephs Arbeitszimmer gelegt. Der Arzt sagt, er könne ihm nicht helfen. Duphot ist bewusstlos. Seine Atemzüge klingen wie kleine Schluchzer, ein feiner Faden Blut sickert aus seinem Mundwinkel. Ich habe deshalb Servietten um sein Kinn gelegt. Seine Augen sind halb offen, aber sie sehen nichts. Aus dem Nebenzimmer dringen die murmelnden Stimmen von Joseph, Julie, dem Arzt und zwei Botschaftssekretären herein. Julie und Joseph sind nämlich hinausgegangen, weil sie sich fürchten, einen Menschen sterben zu sehen. Und der Arzt ist ihnen gefolgt. Es ist diesem italienischen Doktor viel wichtiger, die Bekanntschaft seiner Exzellenz, des Botschafters der französischen Republik in Rom und Bruders des Siegers von Italien, zu machen, als einem gleichgültigen Generalstäbler beim Sterben zuzuschauen. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass Duphot noch einmal zu Bewusstsein kommen wird, obwohl ich auch spüre, dass er schon sehr weit von uns entfernt ist. Ich habe jetzt mein Buch geholt und begonnen, nach all den Jahren wieder hineinzuschreiben. Dann fühle ich mich nicht so allein. Meine Feder kratzt, und das rasselnde Schluchzen ist wenigstens nicht mehr der einzige Laut in diesem schrecklich hohen Raum.
Ich habe Napoleone – mein Gott, nur seine Mutter nennt ihn noch so, die ganze Welt spricht von Napoleon Bonaparte und spricht beinahe von nichts anderem – also, ich habe ihn seit jenem Augenblick in Paris nicht wieder gesehen. Bis heute weiß meine Familie nichts von jener Begegnung. Im Frühling des nächsten Jahres hat er dann Josephine geheiratet. Tallien und Direktor Barras waren ihre Trauzeugen, und Napoleon hat sofort die Schulden der Witwe Beauharnais bei den Schneiderinnen bezahlt. Zwei Tage nach der Hochzeit ist er nach Italien abgereist; er wurde von der Regierung mit dem italienischen Oberkommando betraut! Innerhalb von vierzehn Tagen gewann er sechs Schlachten. Die Atemzüge des Sterbenden haben sich verändert. Sie sind ruhiger geworden. Und seine Augen sind weit offen. Ich habe seinen Namen gerufen. Aber er hört mich nicht.
Ja, innerhalb von vierzehn Tagen gewann Napoleon sechs Schlachten. Die Österreicher räumten Norditalien. Ich denke oft an unsere Abendgespräche an der Hecke. Napoleon hat wirklich Staaten gegründet. Lombardei nannte er seinen ersten Staat und Cisalpinische Republik den letzten. Mailand ernannte er zur Hauptstadt der Lombardei und wählte fünfzig Italiener, die diesen Staat im Namen von Frankreich regieren sollen. Auf allen öffentlichen Gebäuden wurden über Nacht die Worte »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« angebracht. Die Mailänder mussten eine
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