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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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und Mama kehrte sofort zurück, um mich zu pflegen. Bis zum heutigen Tag hat niemand erfahren, dass ich in Paris war. Jetzt liege ich auf einem Sofa auf der Terrasse. Sie haben mich in viele Decken verpackt und behaupten, dass ich sehr blass bin und furchtbar mager. Joseph und Julie sind gestern von ihrer Reise zurückgekommen und werden uns heute Abend besuchen. Ich hoffe, dass ich aufbleiben darf. Marie kommt soeben auf die Terrasse gelaufen. Sie schwenkt ein Flugblatt in der Hand und scheint schrecklich aufgeregt zu sein.
    General Napoleon Bonaparte zum Militärgouverneur von Paris ernannt. Hungerrevolte in der Hauptstadt von der Nationalgarde unterdrückt. Zuerst tanzten die Buchstaben vor meinen Augen. Aber jetzt habe ich mich an sie gewöhnt. Napoleon ist Militärgouverneur von Paris. Das Flugblatt berichtet von Pöbelmassen, die die Tuilerien stürmen und die Abgeordneten in Stücke reißen wollten. Direktor Barras hat in seiner Not den aus der Armee entlassenen General Napoleon Bonaparte mit dem Befehl über die Nationalgarde betraut. Worauf dieser General vom Konvent unumschränkte Vollmacht verlangte undwirklich erhielt. Dann ließ er durch einen jungen Kavallerieoffizier, der Murat heißt, Kanonen herbeischaffen und stellte sie an der Nord-, West- und Südseite der Tuilerien auf. Die Kanonen deckten die Rue Saint-Roche und Pont Royal. Aber die Volksmassen rückten trotzdem vor. Bis eine Stimme durch die Luft schnitt: »Feuer!« Ein einziger Kanonenschuss genügte, um die Menge zurückzutreiben. Ruhe und Ordnung sind wiederhergestellt. Die Direktoren Barras, Lareveillière, Letourneur, Rewbell und Carnot danken dem Mann, der die Republik vor neuem Chaos gerettet hat, und ernennen ihn zum Militärgouverneur von Paris. Ich versuche, alles durchzudenken. Ein Gespräch in der Fensternische der Madame Tallien fällt mir ein. »Wenn ich Barras wäre, würde ich den Pöbel zusammenschießen lassen, lieber Fouché.« – »Dazu muss er erst jemanden finden, der zum Schießen bereit ist.« – Ein einziger Kanonenschuss hat genügt, Napoleon hat ihn abfeuern lassen. Napoleon schießt mit Kanonen auf – ja, auf den Pöbel, schreibt das Flugblatt. Pöbel – das sind wahrscheinlich die Leute, die in den Kellerlöchern wohnen und die teuren Brotpreise nicht bezahlen können. Napoleons Mutter wohnt auch in einem Keller … »Ihr Sohn ist ein Genie, Madame.« – »Ja, leider.«
    Ich bin wieder unterbrochen worden und schreibe jetzt in meinem Zimmer weiter. Während ich noch über das Flugblatt nachdachte, hörte ich Joseph und Julie ins Wohnzimmer treten. Die Tür zur Terrasse ist ja nur angelehnt. Sie hatten also gar nicht bis zum Abend mit ihrem Besuch gewartet. Joseph sagte: »Napoleon hat einen Kurier geschickt. Mit einem ausführlichen Brief an mich und sehr viel Geld für unsere Mama. Ich habe unsere Mama durch einen Boten ersuchen lassen, sofort hierher zu kommen – es macht doch nichts, Madame Clary?« Mama sagte, esmache gar nichts, im Gegenteil, sie freue sich sehr, und fragte, ob Joseph und Julie mir nicht guten Tag sagen wollten, ich sei auf der Terrasse und noch sehr schwach. Aber Joseph zögerte, und Julie begann zu weinen und erzählte Mama, dass Napoleon Joseph geschrieben habe, er hätte sich mit der Witwe des Generals de Beauharnais verlobt. Und mir solle man sagen, er wolle stets mein bester Freund sein. Mama rief: »O Gott, o Gott – das arme Kind!« Dann hörte ich Madame Letitia, Elisa und Polette kommen, und alle sprachen durcheinander. Bis Joseph begann, irgendetwas vorzulesen. Den Brief wahrscheinlich, den Brief des neuen Militärgouverneurs von Paris.
    Viel später kamen er und Julie auf die Terrasse heraus und setzten sich zu mir, und Julie streichelte meine Hand. Joseph konstatierte verlegen, dass es im Garten schon sehr herbstlich aussieht. »Ich möchte Ihnen zur Ernennung Ihres Bruders gratulieren, Joseph«, sagte ich und wies auf den Brief, den er nervös zwischen den Fingern zerknitterte. »Vielen Dank. Leider muss ich Ihnen etwas mitteilen, Eugénie, das – ja, das Julie und mir sehr Leid tut –« Ich wehrte ab: »Lassen Sie das, Joseph – ich weiß es.« Und als ich sein verdutztes Gesicht sah, fügte ich hinzu: »Die Tür zum Wohnzimmer war offen, ich habe alles gehört.« Im gleichen Augenblick trat Madame Letitia auf uns zu. Ihre Augen funkelten. »Eine Witwe mit zwei Kindern! Sechs Jahre älter als mein Junge! Und so jemanden wagt Napoleone mir als Schwiegertochter zuzumuten

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