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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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von Mama aus Marseille. Wir kauerten nebeneinander auf meinem Bett und lasen, was uns Mama in ihrer ordentlichen schrägen Handschrift mitteilte. Etienne hat sich entschlossen, mit Suzanne nach Genua zu übersiedeln, um dort eine Filiale der Firma Clary zu eröffnen. Als französischer Geschäftsmann hat man heute in Genua ganz besondere Chancen, und Seidenhandel lässt sich nun einmal am besten von Italien aus betreiben, schreibt sie. Und da Mama nicht allein in Marseille zurückbleiben will, wird sie mit Etienne und Suzanne nach Genua ziehen. Sie nimmt an, dass ich vorderhand weiter bei Julie bleiben will. Und sie hofft zu Gott, ich werde bald einen lieben guten Mann finden, aber ich soll mich um Himmels willen nicht drängen lassen. Ja – und Etienne will unser Haus in Marseille verkaufen …
    Julie hatte aufgehört zu weinen. Erschrocken starrten wir einander an. »Dann haben wir kein Zuhause mehr«, flüsterte sie. Ich schluckte. »Du wärest doch sowieso niemals in unsere Villa in Marseille zurückgekehrt«, sagte ich. Julie starrte zum Fenster hinaus. »Ich weiß nicht – nein, natürlich nicht, aber es war so schön, an das Haus zudenken und den Garten und das Gartenhäuschen. Weißt du, in all diesen Monaten, in denen wir hier von Palast zu Palast gezogen sind und ich so schrecklich unglücklich war, habe ich immer daran gedacht. Niemals an Josephs kleines Haus in Paris, sondern immer an Papas Villa in Marseille …«
    In diesem Augenblick klopfte es. Joseph trat ein, und Julie brach sofort wieder in Tränen aus. »Ich will nach Hause –«, weinte sie ihm entgegen. Er setzte sich zu uns aufs Bett und nahm sie in die Arme. »Das sollst du auch«, sagte er zärtlich. »Heute Abend halten wir noch den großen Ball ab, und morgen reisen wir. Zurück nach Paris, ich habe genug von Rom!« Er presste die Lippen zusammen und drückte das Kinn an den Hals, wodurch er ein Doppelkinn bekam, und dachte, ungemein bedeutungsvoll auszusehen. »Ich werde die Regierung ersuchen, mir eine neue und vielleicht bedeutungsvollere Aufgabe anzuvertrauen. Freust du dich auf unser Heim in der Rue du Rocher, Julie?«
    »Wenn Désirée mitkommt …«, schluchzte Julie.
    »Ich komme mit«, sagte ich. »Wohin soll ich denn sonst gehen?«
    Julie hob mir ein tränennasses Gesicht entgegen: »Wir werden es sehr nett in Paris haben, wir drei – du und Joseph und ich! Und du kannst dir gar nicht vorstellen, Désirée, wie wunderbar Paris ist! Eine so große Stadt. Und diese Auslagen … Die vielen Lichter, die sich nachts in der Seine spiegeln – nein, du warst ja noch nie dort und kannst es dir nicht vorstellen!« Dann verschwanden Julie und Joseph, um Anweisungen für die bevorstehende Reise zu geben, und ich fiel auf mein Bett. Meine Augen brannten vor Schlaflosigkeit. Ich malte mir in Gedanken mein Gespräch mit Napoleon aus und versuchte, mich an sein Gesicht zu erinnern. Aber vor meinen geschlossenen Lidern tauchtennur die unwirklichen, gläsernen Züge auf, die einem jetzt von Kaffeetassen, Blumenvasen und Tabaksdosen entgegenlächeln. Und dann wurde auch dieses Porzellangesicht verdrängt. Von den Lichtern, die nachts in den Wellen der Seine tanzen und die ich nicht vergessen kann.

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    Paris, Ende Germinal, Jahr VI.
(Alle Leute außerhalb unserer
Republik schreiben: April 1798).
    I ch habe ihn wieder gesehen. Wir waren bei ihm zu einem Abschiedsfest eingeladen: Er schifft sich in allernächster Zeit mit einer Armee nach Ägypten ein und hat seiner Mutter gesagt, dass er von den Pyramiden aus Ost und West vereinen und unsere Republik in ein Weltreich verwandeln wird. Madame Letitia hat ihm ruhig zugehört und nachher Joseph gefragt, ob man ihr vielleicht verheimlicht, dass Napoleon ab und zu an Malariaanfällen leidet. Denn ganz richtig im Kopf scheine ihr armer Junge nicht zu sein … Aber Joseph hat ihr und Julie und auch mir genau erklärt, dass Napoleon auf diese Weise die Engländer vernichten wird. Er wird ihre Kolonialmacht ganz einfach in Trümmer schlagen.
    Napoleon und Josephine leben in einem kleinen Haus in der Rue de la Victoire. Das Haus gehörte einst dem Schauspieler Talma, und Josephine hat es seinerzeit seiner Witwe abgekauft. Seinerzeit, in den Tagen, in denen sie am Arm von Barras durch die Salons der Theresa Tallien glitt. Nur, dass die Straße damals Rue Chatereine hieß. Aber nach Napoleons Siegen in Italien beschloss der Stadtrat von Paris, die Straße ihm zu Ehren umzutaufen, und seitdem heißt

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