Désirée
sich krampfartig. Ich sprang auf und lief zur Tür. In dieser Sekunde seufzte er.Der lange Seufzer zitterte durch den Raum und verklang. »Kommen Sie sofort, Doktor!«, hörte ich mich rufen.
»Es ist alles vorüber«, antwortete der kleine Italiener, nachdem er sich flüchtig über das Sofa gebeugt hatte. Ich trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Grau und bleiern kroch der Morgen ins Zimmer. Dann löschte ich die niedergebrannten Kerzen.
Im Nebenzimmer saßen sie noch immer um den Tisch. Die Lakaien hatten hier die Kerzen erneuert, der ganze Raum wirkte in seiner Festbeleuchtung wie eine andere Welt.
»Sie müssen den Ball absagen, Joseph«, sagte ich. Joseph fuhr auf. Er schien geschlummert zu haben, das Kinn auf der Brust.
»Was – was denn? Ach so, Sie sind es, Désirée!«
»Sie müssen den Ball absagen, Joseph«, wiederholte ich.
»Das ist unmöglich, ich habe ausdrücklich angeordnet, dass –«
»Aber Sie haben einen Toten im Haus«, erklärte ich ihm. Er starrte mich mit gerunzelter Stirn an. Dann erhob er sich hastig. »Ich werde über die Angelegenheit nachdenken«, murmelte er und ging zur Tür. Julie und die anderen folgten ihm. Vor dem Schlafzimmer, das Julie mit Joseph teilt, machte sie plötzlich Halt. »Désirée, darf ich mich in deinem Zimmer niederlegen, ich habe Angst, allein zu sein!« Ich wandte nicht ein, dass sie ja Joseph habe und nicht allein sein würde. Ich sagte nur: »Natürlich. Du kannst dich in mein Bett legen, ich will sowieso noch in mein Buch schreiben.« – »Mein Gott, denkst du noch immer an dein Tagebuch? Wie komisch …«, lächelte sie müde. – »Warum komisch?« – »Weil doch jetzt alles so anders ist. So ganz anders.« Sie seufzte und legte sich angezogen auf mein Bett. Julie schlief bis Mittag, und ich weckte sie nicht auf. Im Laufe des Vormittags hörte ich Hämmern,ging hinunter und sah, dass man im großen Saal ein Podium errichtete. Joseph stand in einer Ecke und gab den Arbeitern Anweisungen auf Italienisch. Endlich konnte er wieder einmal seine Muttersprache sprechen … Als er mich kommen sah, trat er schnell auf mich zu. »Das Podium für den Ball. Von hier aus werden Julie und ich dem Tanz zuschauen.« »Für den Ball?«, sagte ich erstaunt. »Sie können doch den Ball nicht abhalten!« – »Nein, nicht mit einem Toten im Haus, Sie haben Recht. Deshalb haben wir auch die – mhm – die Leiche des seligen Duphot fortschaffen lassen.« Er wurde eifrig: »Ich habe angeordnet, Duphot in einer Totenkapelle feierlich aufzubahren. So feierlich wie nur möglich, weil es sich doch um einen General der französischen Armee handelt. Und der Ball muss selbstverständlich abgehalten werden, er ist jetzt wichtiger als vorher, wir müssen beweisen, dass Ruhe und Ordnung in Rom herrschen. Wollte ich ihn verschieben, so hieße es sofort, wir seien nicht Herren der Lage. Und das Ganze war wirklich nur ein unbedeutender, wenn auch bedauerlicher Zwischenfall, verstehen Sie?« Ich nickte. Der General Duphot hat seine Geliebte und seinen Sohn verlassen, um mich zu heiraten. Der General hat sich waghalsig einer rasenden Volksmenge ausgesetzt, um Eindruck auf mich zu machen. Der General ist erschossen worden. Ein unbedeutender, wenn auch bedauerlicher Zwischenfall. »Ich muss dringend mit Ihrem Bruder sprechen, Joseph.«
»Mit welchem? Mit Lucien?«
»Nein, mit Ihrem berühmten Bruder. Dem General. Mit Napoleon …«
Joseph versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Die Familie weiß, dass ich bisher jeder Begegnung mit Napoleon aus dem Wege gegangen bin. »Es handelt sich um die Hinterbliebenen des Generals Duphot«, sagte ich kurz und verließ den Saal. Die Arbeiter hämmerten wie toll. Alsich in mein Zimmer zurückkehrte, fand ich eine tränenüberströmte Julie in meinem Bett vor. Ich setzte mich zu ihr, und sie schlang die Arme um meinen Hals und schluchzte wie ein Kind. »Ich will nach Hause –«, weinte sie. »Ich – ich will nicht in diesen fremden Palästen wohnen – ich will ein Heim haben, wie alle anständigen Leute – was machen wir denn in diesem fremden Land, in dem man uns totschießen will? Und in diesen grässlichen Schlössern, in denen es immer zieht – und in diesen scheußlich hohen Zimmern, wie in einer Kirche – wir gehören doch nicht hierher! Ich will nach Hause –« Ich drückte sie an mich. Der Tod des Generals Duphot hat bewirkt, dass Julie sich klar darüber wurde, wie unglücklich sie hier ist. Etwas später kam ein Brief
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