Désirée
Sceauxund wusste, dass sich Jean-Baptiste unten in seinem Arbeitskabinett über Landkarten beugte und dünne Linien einzeichnete und kleine Kreuze und winzige Kreise. Dann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte ich auf und hatte das Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen war. Jean-Baptiste lag neben mir und schlief. Meine jähe Bewegung weckte ihn auf. »Ist dir etwas –«, murmelte er. »Ich habe etwas Schreckliches geträumt«, flüsterte ich. »Dass du fortreitest – in einen Krieg.« »Ich reite morgen wirklich in einen Krieg«, antwortete er. Es muss eine Angewohnheit seiner langen Frontjahre sein: Jean-Baptiste kann noch so fest schlafen, wenn er aufgeweckt wird, ist er sofort hellwach. »Ich möchte übrigens etwas mit dir besprechen«, sagte er jetzt. »Ich habe schon einige Male darüber nachgedacht. Womit beschäftigst du dich eigentlich den ganzen Tag, Désirée?«
»Beschäftigen? Ja – wie meinst du das eigentlich? Gestern habe ich Marie mit den Pflaumen geholfen. Vorgestern Vormittag war ich mit Julie bei der Schneiderin, der Berthier, die seinerzeit mit den Aristokraten nach England geflüchtet und jetzt zurückgekommen ist. Und letzte Woche habe ich –«
»Aber womit beschäftigst du dich eigentlich, Désirée?«
»Wirklich – mit gar nichts Richtigem«, beteuerte ich verwirrt. Er schob seinen Arm unter meinen Kopf und drückte mich an sich. Ich fand es wunderbar, meine Wange an seine Schulter zu legen, ohne von Epauletten gekratzt zu werden. »Désirée, ich möchte, dass dir die Tage während meiner Abwesenheit nicht zu lang werden, und deshalb habe ich mir gedacht, dass du Unterricht nehmen sollst.«
»Unterricht? Aber Jean-Baptiste, ich habe seit meinem zehnten Lebensjahr nichts mehr gelernt!« – »Eben deshalb«, antwortete er.
»Ich bin mit sechs Jahren zur Schule gekommen, gleichzeitig mit Julie. Die Nonnen haben uns unterrichtet. Aber als ich zehn Jahre alt war, wurden alle Nonnenklöster aufgelöst. Mama wollte Julie und mich selbst weiterunterrichten. Aber es ist nie etwas Richtiges daraus geworden. Wie lange bist du zur Schule gegangen, Jean-Baptiste?«
»Von meinem elften bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Dann wurde ich aus der Schule geworfen.«
»Warum?«
»Einer unserer Lehrer hat Fernand ungerecht behandelt.«
»Und da hast du dem Lehrer deine Meinung gesagt?«
»Nein, ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben.«
»Es war bestimmt das einzig Richtige«, sagte ich und drückte mich ganz dicht an ihn. »Ich habe geglaubt, du bist ewig lange zur Schule gegangen, weil du so gescheit bist. Und die vielen Bücher, die du liest …«
»Zuerst habe ich nur versucht, Versäumtes nachzuholen. Dann habe ich mir angeeignet, was sie an den Offiziersschulen unterrichten. Aber jetzt will ich mich auch mit einer Menge anderer Fächer vertraut machen. Wenn man zum Beispiel ein besetztes Gebiet verwaltet, muss man doch einen Begriff von Handelspolitik haben, von Jurisprudenz und von – aber mit diesen Dingen brauchst du dich nicht zu beschäftigen, kleines Mädchen! Ich habe mir gedacht, dass du Musik- und Anstandsunterricht nehmen sollst.«
»Anstandsunterricht? Meinst du Tanzen? Ich kann doch tanzen, ich habe an jedem Bastilletag zu Hause auf dem Rathausplatz getanzt!«
»Ich meine nicht gerade Tanzunterricht«, sagte er. »Früher haben junge Mädchen eine Menge anderer Dinge in vornehmen Pensionaten gelernt. Sich verneigen, zum Beispiel. Die Handbewegungen, mit denen eine Dameihre Gäste einlädt, von einem Raum in den anderen zu gehen –«
»Jean-Baptiste!«, sagte ich. »Wir haben doch nur das Esszimmer! Sollte jemals ein Gast vom Esszimmer in dein Arbeitskabinett gehen wollen, so muss ich deshalb wirklich keine großartigen Handbewegungen machen!«
»Wenn ich irgendwo Militärgouverneur werde, dann bist du die erste Dame jenes Distriktes und musst unzählige Würdenträger in deinen Salons empfangen.«
»Salons!« Ich war empört. »Jean-Baptiste – sprichst du schon wieder von einem Schloss?« Gleichzeitig biss ich ihn lachend in die Schulter. »Au – aufhören!«, schrie Jean-Baptiste. Ich ließ los. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie damals in Wien die österreichischen Aristokraten und ausländischen Diplomaten nur auf den Moment gewartet haben, in dem sich der Botschafter unserer Republik blamiert. Geradezu gebetet haben sie, ich möchte Fisch mit dem Messer essen. Tadelloses Auftreten, Désirée, das sind wir unserer Republik schuldig!«
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