Désirée
Und nach einer Weile: »Es wäre so schön, wenn du Klavier spielen könntest, Désirée.«
»Ich glaube nicht, dass es schön wäre.«
»Aber du bist doch musikalisch«, sagte er beschwörend.
»Das weiß ich nicht. Ich habe Musik schrecklich gern. Julie spielt Klavier, aber es klingt abscheulich. Es ist ein Verbrechen, abscheulich Klavier zu spielen.«
»Ich möchte, dass du Klavierunterricht nimmst und auch etwas Gesang studierst«, sagte er, und es klang, als ob er keine Widerrede wünsche. »Ich habe dir doch von meinem Freund, dem Violinvirtuosen Rodolphe Kreutzer, erzählt. Kreutzer hat mich nach Wien begleitet, als ich dort Botschafter war. Und er hat einen Wiener Komponisten zu mir in die Botschaft gebracht – wart einmal, wie hat ernur geheißen? Ja, Beethoven. Monsieur Beethoven und Kreutzer haben viele Abende bei mir musiziert, und ich habe sehr bereut, dass ich als Kind kein Instrument spielen gelernt habe, aber –« Er lachte plötzlich aus vollem Hals: »Aber meine Mama war froh, wenn sie genug Geld hatte, um mir neue Sonntagshosen zu kaufen!« Leider wurde er sehr schnell wieder ernst. »Ich möchte unbedingt, dass du Musikunterricht nimmst. Ich habe Kreutzer gestern gebeten, mir die Adresse eines Musiklehrers aufzuschreiben, du wirst das Stück Papier im Schubfach meines Schreibtisches finden. Beginne mit dem Unterricht und schreibe mir regelmäßig über deine Fortschritte.«
Wieder krampfte die kalte Hand um mein Herz. Schreibe mir regelmäßig, hatte er gesagt. Schreibe mir … Briefe, nur Briefe bleiben übrig. Bleigrauer Morgen schimmerte durch die Vorhänge. Ich starre mit weit offenen Augen die Vorhänge an, deutlich konnte ich jetzt schon ihre blaue Farbe erkennen; langsam begannen sich die Umrisse der eingewebten Blumensträußchen abzuheben. Jean-Baptiste dagegen war wieder eingeschlafen. Eine Faust donnerte gegen unsere Tür. »Melde gehorsamst – halb sechs, mein General!« Das war Fernand. Eine halbe Stunde später saßen wir unten am Frühstückstisch, und ich sah Jean-Baptiste zum ersten Mal in seiner Felduniform. Weder Ordensbänder noch Medaillen oder Schärpen unterbrachen das strenge Dunkelblau. Und ich hatte meine Tasse noch gar nicht zum Munde geführt, als der schreckliche Abschied begann: Pferde wieherten, man pochte an die Haustür, ich hörte eine Unzahl fremder Männerstimmen, Sporen klingelten. Fernand riss die Tür auf: »Melde gehorsamst – die Herren sind hier!« – »Eintreten!«, sagte Jean-Baptiste, und unser Zimmer füllte sich mit zehn, zwölf mir unbekannten Offizieren, die ihre Hacken zusammenschlugen und mit Säbeln rasselten. Jean-Baptistemachte eine flüchtige Handbewegung: »Die Herren meines Stabes.« Ich lächelte mechanisch. »Meine Frau freut sich unendlich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erklärte Jean-Baptiste liebenswürdig und sprang auf. »Ich bin fertig. Wir können gehen, meine Herren!« Und zu mir: »Adieu, mein kleines Mädchen. Schreibe regelmäßig. Das Kriegsministerium wird mir deine Briefe mit Spezialkurier senden. Leben Sie wohl, Marie, passen Sie mir gut auf Madame auf!«
Schon war er aus der Tür, und mit ihm verschwanden die säbelrasselnden Stabsoffiziere. Ich wollte ihn noch einmal küssen, ging es mir durch den Kopf. Plötzlich begann sich der morgengraue Raum rund um mich zu drehen, die gelben Flammen der Kerzen auf dem Esstisch zuckten seltsam, zuckten – zuckten –, bis es auf einmal ganz schwarz vor meinen Augen wurde. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Bett. Es roch ekelhaft nach Essig. Dicht über mir schwebte Maries Gesicht. »Du bist ohnmächtig geworden, Eugénie«, sagte Marie.
Ich schob das Tuch mit dem ekelhaften Essiggeruch von meiner Stirn. »Ich wollte ihn noch einmal küssen, Marie – zum Abschied, weißt du.«
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Sceaux bei Paris, in der Neujahrs-
nacht zwischen den Jahren VI
und VII. (Das letzte Jahr des
18. Jahrhunderts beginnt).
D ie Neujahrsglocken haben mich aus meinem Schreckenstraum gerissen. Die nahe Glocke der Dorfkirche von Sceaux und die fernen Schläge von Notre-Dame und der anderen Kirchen in Paris. In meinem Traum saß ich im Gartenhäuschen in Marseille und sprach mit einem Mann, der genauso aussah wie Jean-Baptiste, aber ich wusste, dass es nicht Jean-Baptiste war, sondern unser Sohn. »Du hast deinen Anstandsunterricht versäumt, Mama, und die Tanzstunden bei Monsieur Montel«, sagte mein Sohn mit der Stimme von Jean-Baptiste. Ich wollte ihm erklären, dass ich zu
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