Désirée
müde dazu gewesen sei. Aber in diesem Augenblick geschah das Schreckliche: Mein Sohn schrumpfte zusammen, dicht vor meinen Augen wurde er immer kleiner und war schließlich nur ein Zwerglein, das mir bis zum Knie reichte. Das Zwerglein, von dem ich wusste, dass es mein Sohn war, klammerte sich an mein Knie und wisperte: »Kanonenfutter, Mama – ich bin nur Kanonenfutter und werde an den Rhein kommandiert. Ich selbst schieße nur sehr selten mit Pistolen, aber die anderen schießen – piff-paff piff-paff!« Dabei schüttelte sich mein Sohn vor Lachen. Eine wahnsinnige Angst erfasste mich, ich wollte nach dem Zwerglein greifen, um es zu beschützen. Aber immer wieder entglitt es mir und schlüpfte unter den weißen Gartentisch, ich bückte mich, aber ich war so müde, so schrecklich müde und traurig. Plötzlich stand Joseph neben mir und hielt mir ein Glas entgegen: »Es lebe die Dynastie Bernadotte!«, sagte er und lachte böse. Ich sah ihm in die Augen und begegneteNapoleons schillerndem Blick. Da läuteten die Glocken, und ich erwachte.
Jetzt sitze ich in Jean-Baptistes Arbeitszimmer und habe die schweren Bücher und Landkarten beiseite geschoben, um auf dem Schreibtisch ein Plätzchen für mein Buch zu finden. Von der Straße dringen lustige Stimmen und Lachen und beschwipster Gesang herein. Warum sind alle Leute gut aufgelegt, wenn ein neues Jahr beginnt? Ich bin so unsagbar traurig. Erstens habe ich mich brieflich mit Jean-Baptiste zerstritten. Und zweitens habe ich solche Angst vor diesem neuen Jahr. Am Tag nach Jean-Baptistes Abreise fuhr ich gehorsam zu dem Musiklehrer, den uns dieser Rodolphe Kreutzer empfohlen hat. Es war ein spindeldürres Männchen, das in einem unordentlichen Zimmer im Quartier Latin wohnt und seine Wände mit verstaubten Lorbeerkränzen geschmückt hat. Das Männchen, das abscheulich aus dem Mund riecht, sagte mir sofort, dass es nur wegen seiner Gichtfinger gezwungen sei zu unterrichten. Sonst würde es – das Männchen nämlich – ausschließlich für seine Konzerte leben. Ob ich für zwölf Stunden vorausbezahlen könne. Ich bezahlte, und dann musste ich mich vor ein Klavier setzen und lernte, wie die verschiedenen Noten heißen und welche Taste zu welcher Note gehört. Als ich von der ersten Lektion nach Hause fuhr, wurde mir im Wagen sehr schwindlig, und ich hatte Angst, wieder ohnmächtig zu werden. Seitdem fahre ich zweimal in der Woche ins Quartier Latin und habe auch ein Klavier gemietet, um zu Hause zu üben. (Jean-Baptiste will, dass ich das Klavier kaufe, aber ich finde, es ist schade ums Geld.)
Im »Moniteur« lese ich jeden Augenblick, dass sich Jean-Baptiste auf einem Siegeszug durch Germanien befindet. Aber, obwohl er mir beinahe jeden Tag schreibt, erwähnt er den Krieg niemals in seinen Briefen. Dagegenfragt er immerzu, wie es mit meinen Unterrichtsstunden steht. Ich bin eine sehr schlechte Briefschreiberin, und deshalb sind meine Briefe an ihn immer zu kurz, und es steht nicht darinnen, was ich ihm so gern sagen möchte: dass ich ohne ihn sehr unglücklich bin und mich furchtbar nach ihm sehne. Er dagegen schreibt mir wie ein alter Onkel. Wie wichtig es ist, dass ich meine »Studien« weiterführe und, nachdem er herausgefunden hatte, dass ich noch gar nicht mit dem Tanz- und Anstandsunterricht beginnen wollte, schrieb er wörtlich: »Obwohl ich mich sehne, dich wieder zu sehen, liegt mir sehr viel daran, dass du deine Erziehung vollendest. Kenntnisse wie Musik und Tanz sind notwendig. Ich empfehle einige Lektionen bei Monsieur Montel. Ich bemerke, dass ich dir zu viele gute Ratschläge gebe, und schließe deshalb, indem ich deine Lippen küsse. Dein J.-Bernadotte, der dich liebt.« Ist das der Brief eines Liebsten? Ich ärgerte mich so sehr darüber, dass ich in meinen nächsten Briefen gar nicht auf seine Ratschläge einging und ihm auch nicht erzählte, dass ich jetzt wirklich bei diesem Monsieur Montel Lektionen nehme. Gott weiß, wer ihm diesen parfümierten Balletttänzer, diese Kreuzung von einem Erzbischof und einer Ballerina empfohlen hat, die mich »graziös« vor unsichtbaren Würdenträgern knicksen lässt und gleichzeitig um mich herumhüpft, um nachzusehen, ob ich auch von rückwärts charmant wirke, wenn ich – ebenfalls unsichtbaren – alten Damen entgegengehe, um sie zu einem – gottlob sichtbaren – Sofa zu geleiten. Man könnte glauben, Monsieur Montel bereite mich für einen Empfang bei einem Königshof vor. Mich, eine überzeugte
Weitere Kostenlose Bücher