Dessen, S
Veranda. Ich holte aus und ließ die Zeitung im exakt richtigen Moment los. Dachte ich. Sah zu, wie sie in hohem Bogen über den Rasen segelte, bis sie mit einem dumpfen Klatschen auf der Windschutzscheibe von Heidis Prius landete.
Eli bremste, hielt an. »Ich weiß, hier wohnt bloß Familie«, meinte er. »Trotzdem kannst du sie nicht einfach da liegen lassen.«
Also stieg ich wieder aus, lief zu Heidis Wagen, klemmte mir die Zeitung unter den Arm. Dann schlich ich mich so leise wie möglich auf die Veranda und wollte sie gerademitten auf die Fußmatte legen, da hörte ich die Stimme meines Vaters.
»… genau darum geht es! Ich wollte, dass du bekommst, was du wolltest. Aber was ist mit dem, was ich will?«
Hastig wich ich von der Haustür zurück, lief auf Zehenspitzen die Stufen hinunter, warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Beinahe drei Uhr. Viel zu spät, um noch auf zu sein, jedenfalls für die meisten Menschen. Außer irgendetwas war nicht in Ordnung.
»Heißt das etwa, du wolltest das Baby nicht?« Heidis Stimme klang brüchig. »Denn falls das stimmt …«
»Es geht nicht um das Baby.«
»Worum dann?«
»Um unser Leben«, antwortete er resigniert. »Und darum, wie es sich verändert hat.«
»Du hast das alles schon einmal erlebt, Robert, nein, sogar zweimal. Du wusstest, wie es mit einem Kleinkind im Haus sein würde.«
»Damals war ich selbst noch ein halbes Kind. Jetzt bin ich älter. Es ist anders. Es ist …«
Schweigen. Nur das leise Motorengeräusch von Elis Truck war zu hören.
»… nicht so, wie ich erwartet hatte«, fuhr mein Vater schließlich fort. »Du wolltest wissen, was mit mir los ist? Da hast du’s. Ich war auf all das nicht vorbereitet.«
Auf all das … So ein umfassender Ausdruck, unendlich wie das Meer. Auf all das … Ich hatte keine Ahnung, was und wer genau damit gemeint war.
»Auf all das …«, wiederholte nun auch Heidi. »Dieses›das‹ ist deine Familie, Robert. Egal, wie vorbereitet du bist oder auch nicht.«
Ich dachte unwillkürlich ans Versteckenspielen. Ich hatte so gut wie nie mitgemacht, wenn die anderen Kinder es auf der Straße spielten, aber die Regeln kannte ich trotzdem: Man versteckte sich, der, der suchen musste, zählte rückwärts und dann – kam er einen suchen, egal, ob man vorbereitet war oder nicht. Wenn er sich näherte, hatte man keine andere Wahl, als sich nicht zu rühren, keinen Mucks von sich zu geben und zu hoffen, dass man nicht entdeckt wurde. Denn wurde man entdeckt, gab es kein Entkommen. Das Spiel war vorbei.
Ich hörte, dass mein Vater zu antworten begann. Aber auch ich war kein Kind mehr, musste nicht mucksmäuschenstill hocken bleiben, sondern konnte in die Nacht entschwinden. Die Nacht, die ebenfalls unendlich war, riesig, allumfassend, mit so vielen Orten, an denen man sich verstecken konnte. Also zog ich mich zurück.
***
»Tut mir leid wegen der Unordnung.« Eli streckte die Hand ins Dunkle, tastete nach dem Lichtschalter. »Hausarbeit ist ein anderes Gebiet, auf dem ich gern versage.«
Dabei war es gar nicht unordentlich, sondern eher – karg. Zumindest sehr schlicht. Die Wohnung bestand aus einem einzigen Raum, mit einem Bett auf der einen sowie einem Stuhl und einem Fernseher auf der anderen Seite. Die Küchenzeile war winzig, die Arbeitsfläche bis auf eine Kaffeemaschine, an der eine Schachtel Filter lehnte, gähnend leer. Trotzdem war ich ihm dankbar, dass er dasGegenteil behauptet hatte. Und sei es nur, weil es bedeutete, dass wir nicht über meinen kleinen Zusammenbruch sprachen.
Als ich über den Rasen auf Elis Truck zulief, hatte ich noch das Gefühl, alles wäre okay. Und auch nachdem ich eingestiegen war und mir eine Zeitung zum Danebenwerfen geschnappt hatte. Doch da fragte Eli: »Na? Alles klar?« Und in der nächsten Sekunde überfiel es mich: Nichts war klar.
Vor jemand anderem zu weinen war immer peinlich. Aber ausgerechnet in Elis Gegenwart plötzlich in Tränen auszubrechen war geradezu demütigend. Vielleicht lag es an der Art und Weise, wie er nur dasaß und schwieg, während meine lauten Schluchzer und Schniefer die einzigen Geräusche im Wageninneren waren. Oder wie er nach einem Moment einfach weiterfuhr und Zeitungen auf Türschwellen warf, während ich aus dem Fenster starrte und versuchte, mit Weinen aufzuhören. Als wir in die unbeleuchtete Auffahrt zu einem grünen Haus einbogen, das nur eine Querstraße von der Strandpromenade entfernt lag, hatte ich mich so weit
Weitere Kostenlose Bücher