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Dessen, S

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Titel: Dessen, S Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Because of you
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Vielleicht waren wir ja alle dazu verdammt, immer wieder dieselben Dummheiten zu begehen. Thisbe, neben mir in ihrem Kinderwagen, brüllte aus Leibeskräften. Ich hätte am liebsten mit eingestimmt. Mich zurückgelehnt, den Mund weit geöffnet, all den Frust, die Trauer, überhaupt alles, was sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte, rausgelassen, bis nichts mehr davon übrig war. Doch ich tat nichts dergleichen, sondern saß einfach bloß still da. Bis ich plötzlich merkte, dass mich jemand beobachtete.
    Ich öffnete die Augen. Neben dem Kinderwagen stand – in Jeans, uralten, abgewetzten Sneakers und einem ausgeblichenen T-Shirt mit dem Aufdruck
LOVE SHOVE
– der Typ, den ich zuerst in der Nacht an der Spitze und am nächsten Morgen ganz früh auf der Promenade gesehen hatte. Es war, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht, um sich neben Thisbe zu stellen und sie zu betrachten. Während er das tat, sah ich ihn in Ruhe ganz genau an: seine gebräunte Haut, seine grünen Augen; das schulterlange Haar, das auch jetzt unordentlich im Nacken zusammengefasst war; die lange, wulstige Narbe am Unterarm, die sich am Ellbogen gabelte wie ein Fluss auf einer Landkarte.
    Keine Ahnung, warum er überhaupt hergekommen war, vor allem, wenn man bedachte, wie abweisend er sich mir gegenüber beim letzten Mal verhalten hatte. Allerdings hatte ich keine Kraft mehr, groß darüber nachzudenken. Stattdessen meinte ich: »Sie hat einfach grundlos angefangen zu brüllen.«
    Darüber schien er zwar nachzudenken. Sagte aber nichts. Wodurch ich aus irgendeinem Grund das Gefühl bekam, weiterreden zu müssen.
    »Sie weint eigentlich die ganze Zeit«, erzählte ich. »Vielleicht hat sie Koliken oder   … Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    Er schwieg immer noch. Genau wie in der Nacht an der Spitze. Oder an jenem Morgen auf der Promenade. Unfassbar! Obwohl ich wusste, dass er nicht antworten würde, quatschte ich ununterbrochen weiter. Was mir überhaupt nicht ähnlich sah, schließlich war ich normalerweise diejenige, die   …
    »Na ja«, meinte er plötzlich. Und schaffte es wieder einmal, mich zu verblüffen. »Uns bleibt immer noch der Aufzug.«
    Ich sah ihn fragend an. »Aufzug?«
    Statt zu antworten, beugte er sich vor, schlug Thisbes Decke zurück. Bevor ich es verhindern konnte – und ich war mir ziemlich sicher, dass ich so etwas hätte verhindern sollen   –, hatte er sie aus dem Kinderwagen und auf den Arm genommen. Ich war völlig perplex. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Und es wirkte so selbstverständlich wie er mit ihr umging. Viel selbstverständlicher als bei meinem Vater oder bei mir, sogar als bei Heidi.
    »Das hier   …« – er legte seine Hände um ihren kleinen Körper und drehte sie um, sodass sie von ihm wegschaute. Sie brüllte immer noch und strampelte wie wild mit den Beinchen – »…   ist der Aufzug.« Damit ging er langsam in die Knie und richtete sich wieder auf. Runter –rauf, runter – rauf, dreimal hintereinander. Beim vierten Mal hörte sie unvermittelt auf zu schreien. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein ungewohnt friedlicher Ausdruck aus.
    Ich war aufgestanden. Starrte ihn ungläubig an. Wer
war
der Typ? Finsterer Fremdling? Fahrradkünstler? Babyflüsterer? Oder   …
    »Eli!«, sagte Heidi, die wie aus dem Nichts neben ihm auftauchte. »Dachte ich mir doch, dass du’s bist.«
    Der Typ warf ihr einen Blick von der Seite zu und wurde – zwar nur für einen winzigen Moment und kaum wahrnehmbar, aber immerhin – tatsächlich rot. »Hi«, sagte er und hielt den Fahrstuhl an. Thisbe blinzelte ein paarmal und brach prompt in Tränen aus.
    »Ach du liebe Zeit.« Heidi streckte die Hände aus, um sie ihm abzunehmen. An mich gewandt fuhr sie fort: »Wo ist dein Vater?«
    »Er hat einen Tisch ergattert«, antwortete ich. »Wir wollten uns gerade hinsetzen, als sie mal wieder ausgeflippt ist.«
    »Wahrscheinlich hat sie Hunger.« Heidi warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mit der anderen Hand hielt sie Thisbe, die inzwischen immer lauter weinte, sanft an ihre Schulter gedrückt. Und ich? Betrachtete Eli und versuchte zu verdauen, was ich gerade miterlebt hatte.
    »Was für ein Tag«, fuhr Heidi fort. »Ihr könnt euch das Chaos in der Boutique nicht vorstellen. Irgendwie stimmen die Eintragungen in meinem Scheckbuch nicht mit den Kontobewegungen überein, ich muss irgendetwas übersehen haben, ein Glück, dass meine Mädchen soverständnisvoll sind. Ich meine, viel verdienen

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