Dessen, S
beinah sechs und das hieß Schichtwechsel. Was theoretisch bedeutete, dass Esther fertig war und Maggie übernahm, wobei aus mir unerfindlichen Gründen diejenige, deren Schicht eigentlich vorbei war, in der Regel trotzdem freiwillig weiter dablieb. Unbezahlt natürlich. Man wollte wohl einfach abhängen. Wobei Abhängen in Colby die allgemeine Hauptbeschäftigung zu sein schien. Die Mädchen versammelten sich in Heidis Laden, drängten sich tratschend um die Verkaufstheke und durchblätterten eine Modezeitschrift nach der anderen. Die Jungs hockten tratschend auf den Bänken vor dem Fahrradladen und lasen ihre Fahrradzeitschriften. Es war total albern. Und trotzdem wiederholte es sich jeden Tag aufs Neue.
»Hallo!«, rief Esther – bei Weitem die Umgänglichstevon Heidis Mädchentrio – mir zu, als ich durch die Tür kam. »Wie geht’s?«
»Gut.« Meine Standardantwort. Ich hatte schon vor Langem beschlossen, freundlich zu sein, aber nicht zu sehr, damit man mich auf keinen Fall in ein Gespräch darüber verwickelte, welcher Promi gerade in welcher Entzugsklinik weilte oder was besser war: Kleider mit oder ohne Spaghettiträger. »Gab es heute irgendwelche Lieferungen?«
»Nur ein paar.« Esther schnappte sich die Lieferscheine von der Verkaufstheke und hielt sie mir hin. »Ach ja, und aus irgendeinem Grund haben wir heute von der Bank eine Extrarolle Vierteldollar-Münzen bekommen und gleich wieder eingezahlt. Der Beleg liegt unter dem Bären.«
»Super. Danke.«
»Kein Thema.«
Ein paar Sekunden später erreichte ich das Büro, schloss die Tür hinter mir und war allein. So wie es mir am besten gefiel. Wenn die Wände jetzt auch noch in einem klaren, schlichten Weiß gestrichen gewesen wären, wäre alles perfekt gewesen.
Normalerweise konnte ich mich so gut auf die Arbeit konzentrieren, dass ich alles ausblendete, was draußen im Laden vor sich ging. Doch manchmal bekam ich dies und das mit, vor allem, wenn ich gerade mit einer Sache fertig war und was Neues anfangen musste. Wenn Leah arbeitete, hing sie ununterbrochen am Handy. Esther schien gern vor sich hin zu summen oder zu singen. Und Maggie … tja, Maggie liebte es, mit den Kunden zu plaudern.
»Die stehen dir super«, hörte ich sie gegen halb acht sagen. Ich wollte gerade mit der Lohnabrechnung für diese Woche loslegen. »Ich schwöre, es gibt keine besseren Jeans als die von
Petunia
. Ich ziehe meine überhaupt nicht mehr aus.«
»Ich weiß nicht …« Eine Mädchenstimme. »Die Taschen gefallen mir gut, aber die Farbe – ich bin mir einfach nicht sicher.«
»Ja, sie ist schon noch ein bisschen dunkel.« Pause. »Andererseits empfiehlt es sich meiner Meinung nach, ein Paar Jeans zu besitzen, die man schnell und unkompliziert aufpeppen kann. Bei den dunklen funktioniert das. Nicht zu allen Jeans kann man beispielsweise hohe Schuhe tragen. Zu denen schon.«
»Echt?«
»Absolut. Aber wenn dir der Farbton nicht gefällt, kann ich dir gern noch ein paar andere Modelle heraussuchen. Die Taschen an den
Pink Slingbacks
sind auch spitze. Und dann gibt es immer noch die von
Courtney Amanda
. Machen den perfekten Hintern. Ist wie Zauberei, ich schwöre es.«
Das Mädchen lachte. »Okay, dann probiere ich unbedingt eine von denen an.«
»Sofort. Ich muss bloß rasch deine Größe finden …«
Ich verdrehte die Augen, obwohl außer mir niemand im Raum war, und tippte ein paar Zahlen in den Taschenrechner. Es war jedes Mal eine solche Verschwendung – von Zeit, von Ressourcen –, wenn Maggie sich in allen Einzelheiten über derlei Banalitäten verbreitete; zum Beispiel, wodurch diese und jene Flipflop-Marken sich voneinanderunterschieden, oder das Pro und Kontra von Tangas beziehungsweise Boxershorts bei Bikiniunterteilen. Jeder Mensch hatte die Chance, so viel über so vieles zu wissen – wie konnte man sich freiwillig dafür entscheiden, sich ausschließlich mit Schuhen und Klamotten auszukennen? Leah kam mir zumindest einigermaßen intelligent vor. Und Esther hatte ganz klar einen eigenen Kopf. Maggie jedoch … nun, Maggie war genau wie Heidi. Ein Mädchen durch und durch, nichts als Pink und Flausch und Oberfläche. Und was noch schlimmer war: Sie schien zufrieden, ja, sogar glücklich damit zu sein.
»Hier, das sind sie!«, sagte Maggie in diesem Moment. »Außerdem habe ich dir ein Paar von den neuen Sandalen mit Keilabsätzen mitgebracht, die wir gerade reinbekommen haben, damit du ausprobieren kannst, wie die Jeans
Weitere Kostenlose Bücher