Dessen, S
dann …«
Mehr Schritte, mehr Abstand. Endlich erreichte ich den Übergang zwischen Promenade und Straße, entspannte mich ein winziges bisschen – da sah ich, wie Eli mir entgegenkam. Langsam ging er hinter einem Trüppchen älterer Damen her, die sich für den Abend aufgerüschthatten. Ich versuchte, mich so klein wie möglich zu machen, doch genau in dem Moment, als er vorbeilief, sah er zu mir. Bitte geh einfach weiter, dachte ich und richtete meine gesammelte Aufmerksamkeit auf das karierte Hemd eines Mannes, der vor mir herlief.
Doch Eli war ganz offenkundig sehr anders als sein Bruder, zumindest wenn es darum ging, Signale zu deuten. Und vor allem, darauf einzugehen. Keine unflätigen Bemerkungen, nichts, kein Wort. Im Gegenteil, er würdigte mich nicht mal eines zweiten Blicks, sondern ging seelenruhig an mir vorbei.
Sechs
»Auden? Hast du …«
Ich hielt inne. Horchte. Wartete. Aber wie üblich folgte nichts weiter als Stille.
Seufzend legte ich meine »Einführung in die Volkswirtschaftslehre« beiseite, stand auf, öffnete die Tür meines Zimmers. Und natürlich stand Heidi vor mir. Sie trug Thisbe auf dem Arm und blickte mich verwirrt an.
»Mist«, sagte sie, »ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hochgekommen. Aber mir fällt einfach nicht mehr ein, was es war. Ist das zu fassen?«
Ja, absolut. Schlimmer noch, die Konsequenzen von Heidis Vergesslichkeit prägten meinen Tagesablauf mittlerweile genauso wie mein Morgenkaffee am frühen Nachmittag und das extrem späte Zubettgehen. Ich hatte mein Bestes getan, um mich abzugrenzen, mein Leben in Colby von ihrem und dem meines Vaters zu trennen – soweit das überhaupt möglich war, wenn man unter einem Dach wohnte. Aber vergeblich. Nach mittlerweile zwei Wochen bei ihnen war ich rettungslos angedockt, ob es mir nun passte oder nicht.
Deshalb hatte ich mittlerweile auch gelernt, dass dieStimmung meines Vaters ausschließlich davon abhing, wie es für ihn mit dem Schreiben lief: Hatte er einen guten Vormittag, war er den Rest des Tages bester Laune. Ließ es sich dagegen zäh an, schlich er vor sich hin grummelnd durch die Gegend. Dank Heidi wusste ich nun außerdem über sämtliche Höhen und Tiefen Bescheid, die eine Frau nach der Geburt durchleidet: die extreme Vergesslichkeit, die extremen Stimmungsumschwünge, die Launenhaftigkeit und das Kopfzerbrechen über alles, was das Baby so tat – schlafen, essen, in die Windeln machen. Selbst Thisbes Gepflogenheiten kannte ich mittlerweile in- und auswendig, sei es das ewige Geschrei (es hörte anscheinend wirklich nie auf) oder die Tendenz, exakt dann Schluckauf zu bekommen, wenn sie endlich dabei war einzuschlafen. Die anderen waren sich meiner Anwesenheit vielleicht ähnlich deutlich bewusst, was ich allerdings bezweifelte (warum wohl?).
All das führte dazu, dass etwas Unerwartetes eingetreten war: Ich begann, die paar Stunden, die ich täglich in der Boutique verbrachte, zu genießen, ja, freute mich regelrecht darauf, weil ich während dieser Zeit wenigstens etwas Handfestes, Strukturiertes tat, mit Anfang, Mitte, Ende. Keine heftigen Gefühlsaufwallungen, kein Schluckauf, keine Kommentare über Badezimmergewohnheiten. Das
Clementine's
war nur deshalb nicht vollkommen, weil es leider Esther, Leah, Maggie und deren ständiges Theater, diesen Dauerpegel an kleinen dramatischen Ausflippern, mit einschloss. Doch zumindest solange meine Tür – also die Bürotür – zu war, hatte ich mehr oder minder meine Ruhe.
Ich musterte Heidi – die stirnrunzelnd vor mir stand und krampfhaft überlegte, weshalb sie hochgekommen war – abwartend. Thisbe, die sie in ihrer Armbeuge wiegte, starrte Richtung Decke und debattierte vermutlich im Stillen mit sich selbst, wann sie wieder mit Brüllen loslegen sollte. »Hat es irgendwas mit der Arbeit zu tun?«, fragte ich, weil ich die Erfahrung gemacht hatte, dass bestimmte Stichworte ihr manchmal auf die Sprünge halfen.
»Nein.« Sie verlagerte Thisbe auf den anderen Arm. »Ich war unten und dachte, ich müsste das Baby bald für ein Nickerchen hinlegen, was aber wirklich schwierig geworden ist, weil sie ständig den Rhythmus ändert. Egal, was ich wie und zu welcher Uhrzeit mache – irgendwann ist sie vollkommen übermüdet …«
Ich blendete ihre Stimme aus und fing an, innerlich die Elemente des Periodensystems durchzugehen, etwas, womit ich mich während Heidis endloser Monologe in der Regel gut beschäftigen konnte.
»… deshalb wollte
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