Dessen, S
einen Käseteller. Mein Blick wanderte nach unten, zu der Tasche mit Heidis Regenjacke darin. Das Rosa ertrank beinahe in dem ganzen dunklen Rot um uns herum. Ich sah Heidi plötzlich vor mir: ihr Blick, als wir über Namen geredet hatten, ihr Kompliment zu meinem zweiten Namen, weil sie mich nicht hatte beleidigen wollen.
»Andererseits bezweifle ich, dass sich dein Vater Heidi wegen ihrer Charakterfestigkeit ausgesucht hat. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, er wollte etwas Flauschiges, Weiches, Belangloses in weiblicher Gestalt, das immer brav nach seiner Pfeife tanzt.«
Sie hatte vermutlich recht. Schließlich hatte Heidi in den vergangenen Wochen nicht eben Rückgrat bewiesen. Dennoch hörte ich mich auf einmal sagen: »Trotzdem ist Heidi nicht bloß oberflächlich und blöd.«
»Nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zum Beispiel ist sie eine ziemlich clevere Geschäftsfrau.«
Sie wandte sich mir frontal zu, erwiderte meinen Blick aus ihren dunklen Augen. »Ach ja?«
»Ja. Ich meine, ich muss es wissen, oder? Schließlich erledige ich ihre Buchhaltung.« Ich hatte vergessen, wie durchdringend meine Mutter einen anschauen konnte. Lange hielt ich ihrem Blick nicht stand, sondern richtete meine gesammelte Aufmerksamkeit lieber wieder auf mein Wasserglas. »Das
Clementine's
ist eigentlich die Art Boutique, die nur in der Hauptsaison funktioniert, aber irgendwie schafft Heidi es, das ganze Jahr über Umsatz zu machen. Außerdem hat sie einen sehr guten Riecher für die neuesten Trends. Viele von den Waren, die sie letztes Jahr um diese Zeit als eine der ersten bestellt hat, haben sich als wahre Renner erwiesen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Mom gedehnt. »Wie zum Beispiel
Booty Berry
?«
Ich spürte, dass ich rot wurde. Warum verteidigte ich Heidi überhaupt? »Ich meine ja nur«, antwortete ich. »Sie ist anders, als sie auf den ersten Blick wirkt.«
»Das trifft auf jeden Menschen zu.« Und wieder einmal war es ihr gelungen, das letzte Wort zu haben und es gleichzeitig so wirken zu lassen, als hätte sie das sowieso schon die ganze Zeit gesagt. Keine Ahnung, wie sie das immer wieder schaffte. »Aber Schluss mit dem Thema Heidi. Reden wir lieber über dich. Wie sieht es mit den Vorbereitungen fürs Studium aus? Liest du genug? Du kannst hier doch sicher jede Menge erledigen.«
»Stimmt«, erwiderte ich. »Trotzdem läuft es etwas zäh. Die Lehrbücher sind so trocken, besonders Volkswirtschaft. Aber ich denke …«
»Auden, du kannst nicht erwarten, jedes Fach oder Thema in mundgerechten Häppchen serviert zu bekommen«, unterbrach sie mich. »Außerdem sollte das gar nicht dein Bestreben sein. Sich einer Herausforderung zu stellen bedeutet nur, dass man das Gelernte letztlich umso besser behält.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »Es ist bloß ein bisschen schwierig, sich durch die Bücher zu ackern, ohne dass einem ein Dozent sagt, was wichtig ist und was nicht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber das sollte gar nicht erst nötig sein. Viel zu oft hocken in meinen Lehrveranstaltungen Studenten herum, die darauf warten, dass ich ihnen erkläre, was ein Dialog oder eine Regieanweisung in diesem oder jenem Theaterstück bedeutet. Sie kommen überhaupt nicht auf die Idee, es selbst herauszufinden. Zu Shakespeares Zeit gab es auch nicht mehr als den Text. Es liegt an dir, seine Bedeutung zu entschlüsseln. Eine bessere, authentischere Methode zu lernen gibt es nicht.«
Sie geriet allmählich richtig in Fahrt. Weshalb es vermutlich ein Fehler war anzumerken: »Aber hier geht es um Volkswirtschaft, nicht um Literatur. Das ist etwas völlig anderes.«
Worauf sie mich mit strengem Blick musterte: »Nein, Auden, ist es nicht. Darauf will ich ja gerade hinaus. Wann habe ich dir je beigebracht, die Meinung eines anderen unkritisch zu übernehmen? Egal, zu welchem Thema.«
Ich schwieg. Noch einmal würde ich nicht den Fehler begehen, ihr zu antworten. Glücklicherweise wurde indiesem Augenblick unser Essen serviert. Weswegen sie wieder einmal das letzte Wort behielt.
Doch die Atmosphäre entspannte sich auch jetzt nicht wirklich. Nachdem Mom eingesehen hatte, dass ich als Gesprächspartnerin ein hoffnungsloser Fall war, bestellte sie sich lieber noch ein Glas Wein und fing an, mir eine lange, verwickelte Geschichte über irgendwelche Streitereien wegen des neuen Lehrplans zu erzählen, die ihr offenbar den letzten Nerv raubten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, gab an den richtigen Stellen zustimmende oder
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