Dessen, S
wieder die Handballen auf die Augen zu drücken, weil die Zahlen ständig verschwammen, beschloss ich, aufzugeben und für heute Schluss zu machen.
Ehe ich das Büro verließ, band ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz und setzte einen gleichmütigen Gesichtsausdruck auf – jedenfalls so gleichmütig, wie es mir überhaupt möglich war. Zwei tiefe Atemzüge, dann ging ich los, Richtung Tür.
»Das Problem besteht darin«, sagte Leah gerade, »dass ich in einem Café niemals einen scharfen Typen kennenlernen werde.«
»Sagt wer?«, erkundigte sich Esther.
»Der gesunde Menschenverstand. Scharfe Typen gehen im Allgemeinen nicht ins Café.«
»Und was ist mit scharfen Künstlertypen? Die
wohnen
praktisch in Cafés!«
»Tja, genau das meine ich: Künstler fallen bei mir definitiv nicht in die Kategorie scharf.«
»Richtig, stimmt ja, du stehst bloß auf Studenten aus schlagenden Verbindungen mit zu viel schmierigem Gel im Haar«, stichelte Esther.
»Apropos schmierig … das ist doch deine Spezialität«, konterte Leah. »Weil sich deine geliebten Künstlertypen nie waschen.«
Insgeheim hoffte ich, sie wären so in diesen interessanten Disput verwickelt, dass sie mich gar nicht bemerken würden. Aber so viel Glück hatte ich heute einfach nicht. Als sie mich bemerkten, sahen sie mich an. Und zwar mit voller Aufmerksamkeit. Alle drei.
»Ich muss los«, sagte ich so locker wie möglich. »Bin alle Quittungen und Kassenbons durchgegangen und wollte morgen etwas früher reinkommen, um eure Gehaltsschecks auszustellen.«
»Okay«, sagte Maggie. »War es nett mit deiner …«
»Weißt du was?« Esther schnitt ihr das Wort ab, indem sie sich wieder an Leah wandte. »Deine letzte Bemerkung nehme ich dir irgendwie übel. Ich bin noch nie mit einem so schmierigen Typen ausgegangen wie dem Kerl von der Luftwaffe, den du letzten Sommer kennengelernt hast.«
»Das war kein Gel«, Leah nahm ihr Handy, blickte beiläufig aufs Display, »sondern Haarwachs.«
»Ich finde, das zählt auch.«
»Tut es nicht.«
»Bist du sicher? Denn …«
Ich war ihr dankbar, weil ich auf diese Weise so tun konnte, als hätte ich Maggies Frage nicht gehört. Was Maggie nicht groß zu bemerken schien, denn als ich mich an der Tür noch einmal zu den dreien umwandte, lachte sie gerade über eine Bemerkung von Leah, wohingegen Esther entnervt die Augen verdrehte. Wie immer wirkten die drei zufrieden in ihrer kleinen rosafarbenen Welt.
Ich ging bei
Beach Beans
vorbei, das ein paar Meter weiter an der Promenade lag, um mir einen großen Kaffee zu holen, suchte mir ein Plätzchen am Strand, trankKaffee und sah zu, wie die Sonne endgültig unterging. Nachdem ich den Becher bis zum letzten Tropfen geleert hatte, nahm ich mein Handy und drückte die oberste Kurzwahltaste.
»Doktor Victoria West.«
»Hallo, Mom, ich bin’s.«
Kurze Pause. Dann: »Auden. Ich habe mir beinahe gedacht, dass du dich melden würdest.«
Kein guter Anfang, trotzdem fuhr ich tapfer fort: »Wollte bloß hören, ob du morgen Lust hättest, mit mir zu frühstücken …?«
Sie seufzte. »Ach, mein Schatz, das wäre wunderbar, aber ich muss sehr früh aufbrechen. Ich fürchte, herzukommen war von vorneherein keine gute Idee. Ich hatte vergessen, wie ungern ich mich in Badeorten aufhalte. Alles ist einfach so …«
Ich wartete auf das Adjektiv, das vermutlich nicht nur Colby, sondern auch mir eins auswischen würde. Doch sie ließ ihren Satz ohne weiteren Kommentar ausklingen und verschonte sowohl sämtliche Badeorte dieser Welt als auch mich.
»Jedenfalls war es sehr schön, dich zu sehen«, sagte sie, nachdem sie ein wenig zu lang geschwiegen hatte. »Lass mich wissen, wie es hier weitergeht. Erzähl mir
alles
.«
Sie benutzte genau dieselbe Formulierung wie bei unserem ersten Telefonat, nachdem ich hergekommen war. Wobei allerdings klar war, dass sie das in jenem Moment auf die peinlichen, schmutzigen Details aus dem jämmerlichen Leben von Dad und Heidi bezogen hatte. Das Leben, welches dank einer rosa Regenjacke nun auch ich führte.
»Mach ich«, antwortete ich. »Gute Fahrt.«
»Danke. Tschüs, mein Schatz.«
Ich klappte das Handy zusammen, blieb unbeweglich sitzen und spürte schon wieder den verdammten Kloß im Hals. Moms Aufmerksamkeit zu erregen war immer schon schwierig gewesen, sie von ihrer Arbeit, ihren Kollegen, ihren Studenten, meinem Bruder loszueisen. Ich hatte mich oft gefragt, ob es nicht total bescheuert war, überhaupt so
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