Dessen, S
»Rate mal, was ich …«
Blitzschnell beugte ich mich vor und legte meine Hand auf seine, gerade als er den Türknauf drehen wollte. »Warte«, flüsterte ich. »Lass das lieber.«
»Bitte was?«, fragte er.
Ich zog ihn mit mir in mein Zimmer, schloss leise dieTür. Signalisierte ihm, mir zum Fenster zu folgen – die Stelle, die am weitesten von der Wand zwischen Thisbes und meinem Zimmer entfernt war.
»Auden«, fragte er, nach wie vor ohne die Stimme zu senken, »was soll das?«
»Thisbe hatte letzte Nacht richtig schlimme Koliken«, wisperte ich. »Und heute Morgen auch. Aber jetzt schläft sie endlich. Und ich wette, Heidi ebenfalls.«
Er blickte erst auf seine Armbanduhr, dann zu der geschlossenen Zimmertür. »Woher weißt du, dass sie schläft?«
»Wer?«
»Das Baby. Oder von mir aus auch Heidi«, antwortete er.
»Hörst du sie schreien?«, fragte ich.
Wir lauschten beide. Alles, was man hörte, war der Wellenapparat. »Irgendwie ist das schon leicht frustrierend«, sagte er nach einer Weile. »Endlich bin ich mit meinem Buch fertig, aber das scheint niemanden zu interessieren.«
»Du bist mit deinem Buch fertig? Ist ja super!«
Das zauberte dann doch ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht. »Hab gerade den letzten Absatz geschrieben. Möchtest du ihn hören?«
»Was glaubst du denn?«, erwiderte ich. »Natürlich!«
»Dann komm mal mit.«
Er öffnete die Tür. Leise ging ich hinter ihm her den Flur entlang, zu seinem Arbeitszimmer, das er in den letzten paar Wochen praktisch nicht mehr verlassen hatte. Was man deutlich an der Sammlung leerer Wasserflaschen,Becher und abgenagter Apfelkerngehäuse in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls erkennen konnte.
»Okay«, sagte mein Vater und setzte sich an seinen Laptop. Er rieb sich die Hände. »Bereit?«
Ich nickte. »Bereit.«
Er räusperte sich. »Der Pfad wurde schmaler, die Äste über mir verschränkten sich ineinander wie feine Spitze. Und vor mir, irgendwo, lag das Meer.«
Als er fertig gelesen hatte, schwiegen wir einen Augenblick. Ein großer, ein bedeutender Moment, wobei ich etwas abgelenkt war, weil ich glaubte, Anzeichen für beginnendes Babygequake gehört zu haben. »Wow!«, sagte ich. »Das ist großartig!«
»Es war ein langer, mühsamer Weg, so viel steht fest.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der unter ihm knarzte. »Zehn Jahre, an deren Ende nun diese einundzwanzig Worte stehen. Ich kann noch gar nicht fassen, dass es endlich geschafft ist.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
Thisbe quengelte mittlerweile so laut, es war nicht mehr zu überhören. Mein Vater richtete sich auf. »Anscheinend sind sie inzwischen wach. Komm, wir überbringen ihnen die frohe Botschaft.«
Und schon sprang er auf, lief beschwingt zu Thisbes Zimmer, öffnete die Tür. Die Lautstärke schwoll sofort um ein Vielfaches an. »Weißt du was, Schatz?«, rief mein Vater, während ich hinter ihm eintrat. »Ich bin endlich mit meinem Buch fertig!«
Man brauchte nur einen Blick auf Heidi zu werfen, um zu sehen, dass ihr das gerade total egal war. Sie hattenoch dasselbe an, was sie letzte Nacht beim Schlafengehen getragen hatte: eine Yogahose und ein zerknittertes T-Shirt mit einem großen, feuchten Fleck vorne drauf. Das Haar hing ihr strähnig ins Gesicht und sie starrte uns aus rot umränderten Augen an, als kämen wir ihr entfernt bekannt vor.
Dennoch rang sie sich ein »Robert, das ist ja wunderbar!« ab. Thisbe strampelte in ihrem Arm, das Gesichtchen puterrot und völlig verzerrt.
»Ich finde, das ist ein Grund zum Feiern, du etwa nicht?«, erwiderte er und drehte sich dann zu mir. Ich versuchte noch, mich zu entscheiden, ob ich nicken sollte oder nicht, da fuhr er, wieder an Heidi gewandt, fort: »Ich dachte, wir gehen heute Abend essen. Richtig festlich und ausgiebig, nur wir zwei. Was hältst du davon?«
Es war schwer, Thisbe zu ignorieren, wenn sie brüllte. Was ich aus Erfahrung wusste, da ich es versucht hatte, seit ich die Schwelle dieses Hauses überschritten hatte. Trotzdem schien es meinem Vater irgendwie zu gelingen. Ganz offensichtlich.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Heidi zögernd und betrachtete das Baby in ihrem Arm, das total und unübersehbar ausflippte. »Ich glaube nicht, dass ich sie so irgendwohin mitnehmen kann …«
»Natürlich nicht«, antwortete Dad. »Wir engagieren einen Babysitter. Hat Isabel nicht gesagt, sie würde wahnsinnig gern mal vorbeikommen, einen Abend oder auch tagsüber, und
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