Deutschboden
keine chemische Reaktion auslöste. Am nächsten Tag waren Kopf und Hals wieder blendend weiß.
Wilfried mochte ich immer lieber. Ich konnte es wirklich nicht anders sagen. Er hatte ein Gespür, wie lange eine Quatscherei zwischen Gast und Wirt dauernd durfte, ohne dass daraus eine Mühseligkeit, ein echtes Gespräch mit ernsten Fragen und Antworten wurde: eben nicht sehr lang. Sein eigenes Geschäft beschrieb Wilfried Finster, als wäre es nun wirklich nicht der Rede wert. Seine Gäste? Fahrradtouristen. Der Radweg Berlin–Kopenhagen, so Finster, war die Grundlage dafür, dass er sein Haus überhaupt noch halten könne. Komischerweise fuhren vor allem Schweizer über den Radweg, Schweizer, so erklärte das Wilfried Finster, mochten das flache brandenburgische Land. Er könne froh sein, dass er zusätzlich so viele Familienfeiern, Sechzigste, Siebzigste und Neunzigste, silberne und goldene Hochzeiten habe, die brächten ihm den Umsatz.
Einmal saß Wilfried im allerhintersten und finstersten Winkel des Lokals auf einer Eckbank, gleich neben der Tür, die zu den Toiletten führte: am Personaltisch. Der Wirt hatte einen Teller mit Kartoffeln und brauner Bratensoße vor sich stehen:
»Ich muss doch die Kartoffeln testen.«
Der Reporter verstand nicht.
Was musste er testen? Wilfried:
»Die Kartoffeln! Ich muss doch die Qualität der Kartoffeln kontrollieren!«
Ach, so.
Wilfried machte weiter den Trick, dass er im ersten Durchgang so leise sprach, dass man ihn kaum verstand. Wenn er seine Worte dann wiederholen musste, konnte er brüllenoder den genervten Tonfall aufsetzen, den man ihm wiederum nachsehen musste (den ersten, in normaler Lautstärke gesprochenen Versuch war man ja zu dumm, zu taub gewesen zu verstehen). Wilfried mochte Sprüche. Seine Sprüche schienen aus Urzeiten zu stammen, nicht aus den Fünfzigerjahren, sondern, keine Ahnung, aus der Zeit von 1820, als man sich noch Märchen erzählt hatte, weil es damals noch keine Fernseher gegeben hatte.
Alles klar, Meister Willie?
»Klar wie dicke Tinte.«
Klar wie watt? Wilfried brüllte: »Klar wie dicke Tinte!«
(Du lieber Himmel. Wie dicke Tinte? Das klang ja furchtbar.)
Die Alte im Lotto-Toto-Laden, in dem ich Morgen für Morgen die Zeitung kaufte, beschwerte sich wieder über ihren Rücken: »Au. Au.« Jaja, der Rücken.
Ich erfuhr in einer der wortkargen und mühseligen Unterhaltungen, die ich mit ihr führte, dass die Alte mal Schafe gehütet hatte, ganz früher mal, zu Ostzeiten, bis das mit dem Rücken zu schlimm geworden sei und sie deshalb, gewissermaßen als letzten Ausweg, den Lotto-Toto-Laden eröffnet habe.
Mein Frühstück aß ich in der Gaststätte Schröder, wo mich abwechselnd Frau Schröder senior, Hansi oder Heiko bedienten: Zwei Rühreier mit Speck und Zwiebeln, dazu ein Hackepeter-, ein Käse- und ein Marmeladen- Brötchen, zwei Becher Kaffee und ein Glas Mineralwasser machten, mit Bleistift auf einem Wernesgrüner-Blocknotiert und in Sekundenschnelle zusammengerechnet, 8,20 Euro.
Hansi: Die Würde des mit Bleistift hinter dem Ohr arbeitenden Mannes. Ich hatte diese Leute, die im Schröder arbeiteten, geradezu wahnsinnig gern.
Mit den eisenharten Proll-Fightern, die auf der Spandauer Straße mit Lieferwagen zu schaffen hatten, ihre Hunde ausführten oder einfach nur rauchend die Bürgersteige besetzt hielten, blieb es weiter schwer. Und doch: Mein Ehrgeiz, es gerade mit den härtesten, blindesten, gemeinsten und hochgetuntesten Proll-Raketen, die mir auf der Straße entgegenkamen, aufzunehmen und in den zwei Sekunden, die für solche Manöver blieben, eine Art Waffenstillstand der Blicke und Gesten zu erreichen, setzte sich langsam durch.
Ich gewöhnte mir einen Gesichtsausdruck an, den ich extra für die allerbösesten Brutalinski-Proll-Fighter aufsetzte. Keine Ahnung, was das genau für ein Blick war. Er hatte eine melancholische Note. Er ging in die Richtung Lass-gut-sein-wir-haben-doch-beide-schon-genug-Probleme. Ich kam damit durch.
Aber woran lag das genau, dass ich nie eins auf die Fresse, nicht einmal Schläge angedroht bekam? Hatte ich meinen Gang, meine Blicke – eine Gewaltsamkeit der Erscheinung, die aus dem Bereich des Nackens und der Schultern kam – dem Gang, den Blicken, der Gewaltsamkeit der Killer-Prolls von Oberhavel, Hardrockhausen in Brandenburg, angepasst? Das wäre ja wunderbar, wenn dies überhaupt möglich war (ich hielt das für unwahrscheinlich). Dann fiel mir
Weitere Kostenlose Bücher