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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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hinterrückses und abgemeldetes Stück Deutschland. Dann legte ich die Füße aufs Bett und versuchte es mit Lesen. Vielleicht war das Buch zu schwer; das Bett zu weich; das Zimmer zu hässlich. Nie zuvor in meinem Leben war Berlin, waren Rom, Paris, New York, die Orte, in denen die Welt groß, modern und international war, so unendlich fern gewesen. Deutschland, das war ja wirklich die hinterletzte, die fertigste, die hassenswerteste Scheiße.
     
    Ich ging die Situationen der letzten Tage im Kopf durch, in denen es brenzlig oder verrückt gewesen war, und komisch – anders als in den Momenten, in denen die Handlung sich auf für mich unübersichtliche Art beschleunigt hatte und davongezogen war, hatte ich jetzt, im Rückblick, Angst.
    Angst.
    Angst.
    Die immer dumme Angst.
    Es war keine große, tolle, aufregende Angst, die sich sehen lassen konnte und einen herausforderte und zu irgendwie wilder und riskanter Gegenwehr antrieb; eher eine mickrige, miese, ängstliche Bedrückung, die nichts als aufhielt und einen klein beigeben ließ.
     
    Mindestens drei Tage lang war ich überhaupt kein toller Reporter.
    Mir war ganz arm zumute. Zum Jammern.
    Es sollte mir längst langweilig sein, aber nicht mal langweilig wurde mir, so sinnlos nervös war ich.
    Gerne hätte ich eine Hand gehalten.
    Gerne hätte ich eine Frau gehabt, die morgens, gleichnach dem Aufwachen, mit mir geschlafen und mir ins Ohr geflüstert hätte, was für ein toller Kerl ich sei.
     
    Das Zimmer fünf im Haus Heimat zu Oberhavel war ein gefährlicher Ort, weil mir dort oben, mit dem Blick auf das Loch in der Hauswand gegenüber, das Gefühl für meinen Auftrag verloren ging. Ich spürte: Der Rückzug von der Straße war ein riskanter, vielleicht der falsche Schritt gewesen. Er kam dem vollständigen Rückzug aus der Kleinstadt gleich. Wer in der Kleinstadt die Straße aufgab, der konnte gleich nach Berlin zurückgehen, der konnte hier abhauen. Ich kam vom Kurs ab, ich driftete weg – ich spürte, wie das differenzierte Betrachten meiner Situation in der Kleinstadt mir nichts als Argumente lieferte, mich von hier fortzubewegen. Dann fielen mir die Kumpels in Berlin ein. Wäre heute ein Anruf aus Berlin gekommen, ich hätte nicht erklären können, warum es diese Stadt war, in der ich mich aufhielt, und nicht die Stadt, die ich noch nicht kannte und die zwanzig oder zweihundert Kilometer weiter Richtung Nordosten lag. Einige quälend grundsätzliche Fragen meldeten sich in meiner versuchten Ruhezeit in Zimmer Nummer fünf – auch deshalb, weil die Zeit dort lang und der Reporter dort immer müder, schlaffer, dummer, unentschiedener wurde: Was willst du hier? Spinnst du? Wie viele Biere willst du noch mit einer Runde Kleinstadt-Punks trinken, die, anstatt ihrer gelernten Arbeit, dem Steineschleppen auf dem Bau, nachzugehen, sich ihr Geld lieber von Onkel Hartz dem Vierten abholten?
     
    Meine Boxbemühungen waren ein Witz. Ich wurde von den anderen, die Rico, René, Paul, Benno und Fred hießen, getrennt: Sie bekamen ein Training, ich bekam ein Behindertentraining. Je offener verachtungsvoll sich der Trainer mir gegenüber aufführte, desto nachsichtiger und umgänglicher verhielten sich die Jungs. Es waren eh freundliche Jungs (gefährlich waren die, die nicht zum Boxtraining kamen; wer zum Training kam, hatte einen ersten Beweis seiner Integrationsfähigkeit erbracht). Sie hatten ihre Achtung und ihre Angst vor mir und damit auch jede Aggression gegen mich verloren. Zum Ende des Trainings, die Jungs hatten sich zum Wiegen aufgestellt, nahm der Trainer mich zur Seite und sprach, leise genug, damit die anderen ihn nicht hörten: »Bei dir ist es doch nun wirklich egal, ob du jetzt oder in drei Monaten das Boxen lernst. Kurier doch erst mal dein Knie aus.«
     
    Dann hielt ich mich an dem fest, was ich einst in Redaktionen gelernt hatte: Ich führte Interviews. Der Reporter traf die ersten Bürger von Oberhavel, den Bürgermeister, den für Tourismus und wirtschaftliche Entwicklung zuständigen Stadtverordneten. Alles umgängliche, sich normal und nachvollziehbar aufführende Menschen. Maria im Haus Heimat war plötzlich ganz braun im Gesicht: echt schokoladenbraun. Hals und Dekolleté blieben weiß, was einen unvorteilhaften Kontrast ergab. Es war kein neuer Teint aus dem Bräunungsstudio, eher eine neue Creme. Sie musste eine abwaschbare Creme benutzen, also eine Creme, die auf der Haut drauf lag und, anders als sonst Bräunungscremes funktionierten,

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