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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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dicke Kind sich schleppend langsam bewegen. Es war erst nicht einfach,etwas zu erkennen, weil das dicke Kind so dick war. Ich sah nur Hose und Jacke.
    Dann fiel mir ein, dass ich das Kind schon einmal, vor ein paar Tagen, gesehen hatte. Da war es Vormittag gewesen, es hatte seitlings auf einer der Bänke am Marktplatz gelegen, in einer reglosen, merkwürdig erschöpften Art, die es bei Kindern so nicht gibt (es hatte ausgesehen wie ein Erwachsener, der nachts nicht geschlafen hatte und nun, am Tag, noch ein bisschen nachdämmern musste). Jetzt stand das Kind da und hielt sich mit beiden Händen an der Bank fest. Es war zwischen sechs und zwölf Jahre alt, genau war sein Alter nicht zu bestimmen. Es war einen Meter hoch und geschätzte vierzig Kilo schwer. Der Kopf des Kindes wirkte schrecklich klein im Vergleich zum großen, fettgefressenen Körper. Der Oberkörper steckte in einer Jacke aus Fleece-Stoff, darunter kamen Armeehose und Billig-Turnschuhe. Auf dem Kopf des Kindes saß eine absurd aussehende, weil viele Nummern zu große Trucker-Kappe aus Camouflage-Stoff, darunter, im Gesicht des Kindes, das Gestell einer Weitsichtigenbrille in den Kinderfarben Rot, Gelb und Blau. Das Kind war offensichtlich alleine da, also vollkommen auf sich gestellt.
    Ich sah das Kind sich von der Bank wegbewegen und zwischen Eiche und Imbiss hin- und herhüpfen. Seine Bewegungen hatten etwas Abgehacktes, Ungelenkes, Hilfloses, etwas gruselig Zurückgebliebenes. Während seines Spiels, des Auf-und-Ab-Taumelns zwischen Baum und Imbiss, machte das Kind Laute – es war kein Deutsch und kein aus Brandenburg oder sonst der Gegend stammender Dialekt. Es war ein Zurückgebliebenen-Brabra. Die Sprache des Kindes ähnelte dem Gurren einer Taube.
    Ich schämte mich und gruselte mich und konnte nicht anders, als mich von dem Kind an eine Taube erinnert zu fühlen. Nun setzte sich das Kind auf den Hosenboden, es war das Hinsetzen eines Säuglings, der des Gehens noch nicht mächtig ist, er suchte Halt und fand ihn, indem er sich mit einer Hand an die Metallverkleidung der Eiche lehnte. So saß das Kind da, wandte den Kopf mal hierhin und dorthin und sah sich durch die Gläser seiner Kinderbrille den Marktplatz an. Es war ein zum Himmel schreiend absurder Anblick. Alles klar, dachte ich und starrte weiter das Kind an, jetzt war man als Mensch und Bürger gefragt, nützte ja alles nichts, also ein wacher und verantwortungsvoller Bürger sein, Polizei rufen, Jugendamt einschalten.
    Dann verstand ich, dass das dicke Kind natürlich zu dem Asozialen am Kiosk gehörte. Sie trugen ja beide das gleiche Trucker-Kappen-Modell. Ich erkannte ihre Verbindung auch daran, dass der Assi das Kind nicht direkt ansah, sondern auf eine merkwürdig starre Art über es hinwegblickte. Es war dem Kiosk-Assi nicht recht, dass das dicke Kind zu ihm gehörte, das sah man, wobei er die Aufsicht für das Kind ja nicht ausdrücklich ablehnte, sondern nur auf eine denkbar minimale, für ihn machbare Art reduziert hatte.
    Nun sah ich das dicke Kind mit anderen Augen. Es war aufgestanden, lehnte am Baum und kratzte sich, einen Turnschuh über den anderen gestellt, am Hinterkopf, wodurch die Camouflage-Kappe nach vorne gerutscht war. Es sah das Kind natürlich nicht mehr wie ein Säugling aus, eher wie ein Frühpubertierender, der gleich mit Zigaretten zu spielen anfangen würde.
    Richtig, ich, Reporter, war fasziniert von diesem Kind, und auf eine Art schien es mit meiner Aufmerksamkeit zu spielen: Das dicke Kind suchte, sich selbst in ein günstiges Licht zu rücken. Es flirtete. Hinter den Brillengläsern glaubte ich eine Mischung aus Scham und Neugier zu erkennen, wobei die Scham zum Teenager und die Neugier zum Kind gehörten. Ich machte mir Gedanken darüber, wie der Assi und sein Kind, wenn sie nicht gemeinsam am Imbiss auf dem Marktplatz von Oberhavel, Hardrockhausen, Wache hielten, wohl gemeinsam unter einem Dach lebten. Es waren keine schönen Gedanken, aber ich machte sie mir. Ich sah den Assi am Küchentisch sitzen und, die offenen Plastikpackungen aus dem Kühlschrank vor sich, Leberwurstbrote schmieren. Das Kind saß vor dem Fernseher, ließ sich die Happen reichen und aß mit offenem Mund. Ich sah beide, Assi und Kind, nun wieder gemeinsam vor dem Fernseher sitzen und an denselben Stellen lachen. Er, Assi, trank Bier, es, Kind, aß Chips. Ich sah, wie das Kind mit seiner Brille einschlief. Wenn er abends vor die Tür ging, dann kullerte das Kind auf dem

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