Deutschboden
Zwielicht; großer, weißer Himmel. Die Sonne, die hinter den Wolken stand, drückte und drängelte und wollte durch, aber dazu mussten erst einmal die Wassermassen, die sich in den Wolken sammelten, herunterbrechen.
Die Stadt hörte hier auf.
Eine Kleingartenkolonie. Deutschlandfahne. Rosenbüsche. Mops hinter Maschendrahtzaun. Dann kamen keine Häuser mehr. Nur Gras, Büsche; Birken, silbrig glänzende Birkenblätter. Die Straße war breit und an den Rändern nicht befestigt: Betonplatten und mit Schotter aufgefüllte Schlaglöcher.
Ein Bahnübergang.
Es war eine Industriestraße, also eine Fahrbahn, die nicht für Fußgänger, Fahrradfahrer, Autos, sondern für Lastwagen gebaut worden war. Lastwagen waren diese Strecke, so kaputt wie sie war, viele Jahrzehnte lang mit hoher Geschwindigkeit heruntergebrettert.
Der Rahmen von Meister Finsters Billigfahrrad ächzte. Der Weg war auch deshalb anstrengend, weil man sich als Radfahrer in den Schlaglöchern grandios auf die Fresse legen konnte.
So fuhr ich etwa zehn Minuten lang.
Starke Kehrtwende-Gelüste.
Kein Mensch ließ sich blicken.
Niemand, der mir entgegenkam.
Niemand, der hier nicht sehr konkret etwas suchte oder zu tun hatte, wäre hier weitergefahren.
Auf der rechten Straßenseite tauchten nun hinter den Blättern große Wasserflächen auf.
Ich stieg ab.
Ein Wendeplatz für Lkws. Die Straße, auf der ich gestoppt hatte, wies sich durch Straßenschilder als Ziegeleiweg, der Platz als sogenanntes Werk III aus. Den Inhalt einer vom Tourismusamt Oberhavel aufgestellten Informationstafel diktierte ich in meinen Olympus-Stift: »Die Tonstichlandschaft mit ihren über fünfzig Seen ist die Folge der ehemaligen Ziegelindustrie. In der Blütezeit um 1910 wurden hier in 63 Öfen cirka 630 Millionen Ziegel pro Jahr aus eiszeitlichen Bändertonen produziert.«
Ein Schild verbot das Baden. Eine Tafel bezeichnete die Gegend als Anglerparadies. Eine dritte, vom Tourismusamt aufgestellte Tafel pries Tier- und Pflanzenwelt, die sich in der sogenannten Industrie-Folgelandschaft entwickelt hatte: das Helmknabenkraut, die Rotbauchunke, der Fischotter.
Der Blick auf das Wasser. Nie zuvor hatte ich eine so große Wasserfläche gesehen, die überhaupt nicht wie ein See, wirklich nur wie eine mit Wasser geflutete Grube aussah.
Das große Weiß um mich herum: das nahende Gewitter. Der Luftdruck und die Feuchtigkeit trieben mich weiter die Betonplatten hinunter, tiefer ins Land der toten Industrie, tiefer in die Tonstichlandschaft hinein.
Da stand ein zweistöckiges Haus. Es stand am Scheitel einer Linkskurve. So, wie es jetzt da stand, noch gut zweihundert Meter entfernt, ragte es merkwürdig steil und nackt und kahl in das Himmelsweiß hinein.
Ich bremste sofort ab, blieb stehen.
Das Haus wirkte erfunden, wie fehl am Platz. Es stand da, wie von einem Kran in die Kurve hineingestellt. Es war das falsche Haus am falschen Ort – eine Mietskaserne, der die anderen Kasernen, mit denen sie einst eine Einheit gebildet haben mochte, abhandengekommen. Es war das Haus in einer Arbeitersiedlung des 19. Jahrhunderts, das, in Ermangelung anderer Häuser, die die Zeit nicht überstanden hatten, nun allein die ganze Siedlung darstellte. Eben weil ein Haus an dieser Kurve sinnvollerweise nicht zu stehen hatte, war das Haus eine Erfindung – und ein Gespensterkasten.
Näher, nur wenige Meter davorstehend, ging vom Unglück, das um den Kasten war, nichts verloren. Im Gegenteil. Das Haus war in einem schlechten, aber nicht dem denkbar schlechtesten Zustand. Die Büsche reichten bis an die Hauswand; über das Grün am Haus war in diesem Sommer schon einmal ein Rasenmäher gefahren. Beiger Kratzputz; Flecken auf der Fassade; da, wo der Putz abgeplatzt war, lagen die Ziegelsteine frei. Und doch, wenn es je ein Haus gegeben hatte, das krank war, krank von Schimmel, Elend und Verwahrlosung, dann war es dieses Haus.
Ich stand noch immer davor und sah den Kasten an. Er war bewohnt. Die Vorhänge waren teils vor Kurzem aufgehängt worden, teils hingen sie seit Jahrzehnten. So nah davorstehend konnte ich noch sagen, dass ich noch nie ein so alkoholisiertes Haus gesehen hatte (wenn es so etwas wie ein alkoholisiertes Haus denn gab). Man sah, man roch die Massen billigen Alkohols, die in diesem Haus in rund zehn Jahrzehnten gesoffen worden waren.
Das Haus war auch deshalb so hinüber, weil es so eine Suffbude war. Ich legte das Fahrrad an den Straßenrand, suchte einen
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