Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
Vom Netzwerk:
gegenüber fuhr der Bus vom Werk III über das Werk IV bis zur Endstation am Werk V.
     
    Ich geriet in eine anders asoziale und aggressive, mir bis dahin nicht bekannt gewesene Reporterlaune. Ich wollte mit einem der Ziegler-Haudegen von früher reden, am besten mit dem Wirt der Ziegler, Kurt Friedrich, persönlich. Ich stand vor der Festung und suchte nach einem Eingang.
    Hinter dem Kombi blickte ich durch eine Metalltür, die einen Spalt weit offen stand, in einen Hof hinein. Da stand ein alter BMW. Am Kofferraum des Wagens war ein Mann zugange, Werkzeug am Boden, er fummelte an Drähten oberhalb des Nummernschilds herum. Hinter dem Auto, im Schutz der Hauswand, saß ein alter Mann auf einer Bank mit Blumenpolstern vor einem Campingtisch. Roter Kopf. Großes Hornbrillengestell. Auf Nachfrage zeigte der Mann am Auto auf den Alten: »Die Kneipe hat mein Vater gemacht. Da sitzt er. Vorsicht. Der kriegt kaum noch Luft.«
    Der Alte sah so aus, als ob er einverstanden damit sei, dass sein Sohn einem Fremden mitteilte, dass er kaum noch Luft bekam. Er hielt drei Finger in die Luft. Als der Reporter fragte, was die Finger zu bedeuten hatten, sagte er: »Drei Fragen, drei Antworten. Keine mehr. Los.
    Frag.«
    Dann redete er erst mal selber los. Vierhundert Mann hatten hier zum Feierabend das Lokal gestürmt, so der Alte. Ab 1969 habe er die Klause geführt. Was hatte er vorher gearbeitet? »Werk IV. Da bin ich Lok gefahren, erst Dampflok, dann die neuen Dieselloks.« Wie war er zu der Klause gekommen? »Ich war hier Gast gewesen, wie alle anderen auch. Der Wirt sagte: Ich höre auf. Ich: Wenn du aufhörst, dann nehme ich das Ding. Das bisschen Schnitzel- und Boulettenbraten, das kriegen wir auch noch hin.«
    Die drei Fragen waren gestellt. Ich fragte den letzten Wirt der Ziegler-Klause, was 1969 für eine Zeit gewesen war. Der Alte schnauzte mich an: »Blödmann! Das ist vierzig Jahre her.«
    Ich musste lachen, weil die Antwort des Wirts natürlich eine grandios widersinnige war – bloß der Alte fand das nicht lustig. Ich moderierte nun, anstatt zu fragen, wie das in einer Talkshow gemacht wurde, unter Vorgabe einer inneren Anteilnahme eine Stimmung an. Ich sagte: »Und dann kommen vierhundert Mann aus dem Betrieb und stürmen das Lokal …« Der Alte unterbrach: »Die stürmen nicht. Aber jedenfalls war Betrieb. Es gab Bier und Schnaps.« Was war das für ein Schnaps? »Was sind das für Fragen, Junge. Klarer! Cognac! Weinbrand-Verschnitt! Wir waren ganz sicher keine Weinstube.« Er flüsterte plötzlich: »Was trinkt der Arbeiter? Dickes und Dünnes.« Dickes und Dünnes? Was sollte denn das, bitte, bedeuten? Er brüllte, mittlerweile mit sagenhafter Freude an der eigenen Brüllerei: »Wenn das Bier drei Tage alt war, dann war es dick. Zu DDR – Zeiten.« Geil. Ich verstand nur Bahnhof. Aber es machte mir natürlich Freude, mit dem Alten zu sprechen. Ich zeigte auf seinen Sohn, der sich am Wagen zu schaffen machte: Ihr Junge hier, der hat damals keine Lust gehabt, das Lokal zu übernehmen?
    Herr Friedrich von der Ziegler-Klause schnauzte volle Kraft voraus, es war ein wunderbares Schauspiel: »Blödmann! Kann doch keiner mehr leben von einem Lokal. Es ist doch alles tot. Guck doch rum, wo du noch Gardinen vor den Fenstern siehst. Wer wohnt denn noch hier? Noch ein paar Asoziale, ein Kleinbauer und seine Familie. Das war’s.«
    Ich nahm den Hut ab, setzte ihn wieder auf. Im Innenfutter hatte sich ein dunkler Schweißring gebildet. Der Reporter bedankte sich für das Gespräch. Was sein Sohn da hinten am Kofferraum des BMW zu tun habe, das wollte der Reporter abschließend wissen.
    Brüllender Alter: »Eine Rückfahr-Kamera, die wird da hinten eingebaut. Mensch! Damit ich vorne sehe, wenn ich hinten jemandem draufbumse.«
    Ich: »Ist ja gut!«
    Der Alte: »Ja, ist gut. Mal sehen, ob das gut ist.«
    Dem Alten zum Abschied: all meine Achtung.
    Ich stieg aufs Fahrrad.
     
    Und nun ging es ganz dahin.
    Es hatte immer noch nicht geregnet: silberfarbener Himmel, fieberartiges Flimmern. Eine zum Zerreißen gespannte Luft.
    Ich trat in die Pedale.
    Zog über die Betonplatten.
    Rechts das Glitzern der Tonstiche.
    Links die Backsteinschlote der ehemaligen Industrie. Ganz in der Ferne drehten sich die Windräder.
    Die Straße wurde ein Sandweg.
    Dann Kies.
    Dann wieder Beton.
    Die Gräser rechts und links der Straße waren oben so komisch rot.
    Warum?
    So waren halt Gräser.
    Polnische Gefühle.
    Ostpolnische

Weitere Kostenlose Bücher