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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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Gefühle.
    Ostslowakische Gefühle.
    Tundra-Gefühle.
    War das hier noch Deutschland oder schon der Kosovo?
     
    Nachdenken über Speedy. Er wohnte, so stellte ich mir das vor, hier irgendwo in den Büschen. Aber wollte ich ihn sprechen, ihn kennenlernen, dann musste ich etwas anders machen als bei den anderen Oberhavelern, die ich bisher an der Theke, mit dem Bier in der Hand, kennengelernt hatte.
    Ich stellte mir vor, wie der Reporter Speedy für eine Führung durch sein Zuhause beziehungsweise für ein Gespräch von ein paar Stunden ein Informationshonorar von 50 Euro anbot. Das Angebot würde ich betont respektvoll und sachlich unterbreiten, damit es für ihn, Speedy, annehmbar war, nach dem Motto: »Pass auf. Wir haben beide zu tun. Wenn ich deine Zeit beanspruche, dann muss ich dafür zahlen, ist doch vollkommen klar.«
    Er würde es annehmen. Und trotzdem, das Angebot war natürlich eine neue Qualität des Recherchierens. Es hatte einen üblen Beigeschmack. Es machte, wenn man so wollte, aus mir einen Freier, aus Speedy einen Strichjungen. Das Bezahlen von Informationen war auch deshalb verboten, weil es Reporter und Informant in eine offensichtliche Abhängigkeit zueinander brachte, wodurch die Illusion der objektiven, der unabhängigen Berichterstattung aufgehoben war. Ich ahnte, dass in Speedy keine neue Geschichte steckte (die brauchte niemand, an die glaubte eh kein Mensch); wohl aber ein neuer Tonfall, eine andereHärte und Unmittelbarkeit im Erzählen. Dafür würde ich bezahlen.
    Ich bog links von der Straße ab: in einen Sandweg hinein.
    Mal sehen, was da kam.
     
    Ich kam in eine Art Kolonie. Zweistöckige Häuser aus rotem Klinker, Schuppen, Hütten, Garagen, sonstige Verschläge. Einige Häuser sahen wie Hundehütten oder Vogelhäuser aus, aber es wohnten Menschen darin. Viel Wellblech, Holztüren, Wäscheleinen, Gemüsebeete, Blumenkübel, Markisen. Jedes Haus hatte seinen von einem Metallzaun eingefassten Vorgarten und seinen Windschutz; Briefkasten und Fernsehschüssel an den Hauswänden.
    Hinter den Hütten lag die Havel.
    Das Schild: »Hiermit untersagen wir die Ablagerung von Bauschutt, Sperrmüll, Gras- und Holzschnitt hinter und neben den Garagen und den Schuppen. Der Eigentümer.«
    Eine Frau mit Arbeitskittel und, ich glaubte echt, mit Kopftuch, guckte aus einem Fenster im ersten Stock, keine zwei Meter über dem Boden, und rief ihre Kinder ins Haus.
    Der Warnschild-Klassiker mit dem Schäferhund und der Aufschrift »Ich brauche 5 Sekunden bis zur Tür. Und du?«
    An einem Gartenzaun war das Schild »Möwenpick Crisp Erdbeer-Sahne« angebracht, daneben ein mit der Hand beschriftetes Stück Pappe: Eier 1,50.
    Eine dürre Katze strich durchs Gras.
    Auf den Wiesen zwischen den Schuppen parkten Autos.
    An einem Zaun waren – ich stieg ab und ging näher hin, um genauer zu sehen – CDs mit Bindfäden angebracht. Ein Mann in Badehosen, Stoffhütchen auf dem Kopf, Bierflasche in der Hand, kam herangeeilt:
    »Wegen der Wildscheine. Die Frischlinge machen sonst alles platt.«
    Fröhliches Männlein.
    Freundliches Männlein.
    Er kannte den CD – Trick gegen die Wildschweine.
    »Wohnen Sie hier?«
    »Im Sommer. Im Winter nicht, da geht man ja kaputt hier im Modder.«
    Grüßen. Grinsen. Weiter zum nächsten Vorgarten. Es war eine kleinbürgerliche Idylle. Es gab viele lauschige Ecken. Hollywoodschaukeln, Campingmöbel, geblümte Wachstischdecken, Lkw-Reifen als Blumenbeete.
    Es sah, abgesehen von den Fernsehschüsseln und den Autos, wie eine Welt von ganz früher aus. Ich war berührt. Die Art, wie Menschen sich hier eingerichtet und ein Zuhause gebastelt hatten – auf engstem Raum, mit einfachsten Mitteln, jenseits aller Komfortstandards, die für den Stadtmenschen galten – wirkte beängstigend und schön. Ich hatte nicht gewusst, dass Menschen in Deutschland so lebten: in Gartenlauben, die auf Sandböden standen. In Amerika nannte man die Bewohner dieser primitiven Idyllen White Trash.
     
    Ich jagte über die Betonplatten, zurück nach Oberhavel. Der Himmel war schwarz, die Temperatur in den letzten Minuten um einige Grade gefallen. Schon flogen Tropfen, kündigten Windböen den Regenguss an.
    Vor dem Bahnübergang kam mir Speedy entgegen. Er wolltean mir vorbeischießen. Ich brachte ihn, mit einem hektischen Wink- und Rufmanöver, zum Anhalten. Er brauchte ein bisschen. Sein Fahrrad hatte keine Bremsen. Er sah mich an: mit angespanntem Gesicht, schmal gestellten Augen. Er rieb sich die

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