Deutsche Geschichte Von 1815-1870
des Kaisers, durch den Mund des Volkes, im Geiste des Volkes wieder aufzuwecken. Hier erzählt ein Invalide von den Zügen und Kämpfen, die er mit dem Kaiser durchgemacht, dort ist es eine alte Bäuerin, die den horchenden Enkeln beschreibt, wie er vor ihrer Hütte Halt gemacht, wie sie ihm ein Glas Milch gereicht, wobei die erstaunte Schaar in die Worte ausbricht: »Tu l'as vu, grand mère? Il t'a parlé, grand mère?« u.s.w.
Doppelt thöricht aber war das Beginnen der Regierenden, ihre Zeit auf den finstren Standpunkt vergangner Jahrhunderte in einem Augenblick zurückführen zu wollen, da sich gerade in Frankreich auf allen Gebieten des Wissens die lebhafteste Regsamkeit kundgab. Wir dürfen diesen Moment nicht ganz unbeachtet vorüber gehen lassen, weil die deutsche Literatur und Wissenschaft einen zu bedeutenden Anstoß aus der geistigen Strömung empfing, die dort in den Jahren 1820–1830 sich geltend machte, und die bald in ganz ähnlicher Weise diesseits des Rheines auf die politische Gestaltung der Dinge und die öffentliche Meinung einwirken sollte. Frankreich selbst reifte unter diesen geistigen Einflüssen unaufhaltsam seiner zweiten bedeutenden Revolution entgegen, die bei ihrem Ausbruch in solch hohem Grade in den Gemüthern vorbereitet lag, daß sie sich in der kurzen Spanne Zeit von nur drei Tagen vollziehen konnte, und daß sich auch nicht eine kraftvolle Hand erhob, den stürzenden Thron zu halten oder zu retten. –
Den politischen Umwälzungen ging als Herold die auf dem
literarischen
Gebiete voraus, wo man der alten steifen und stelzbeinigen Klassicität den. Krieg erklärte, bis sie den kühnen Streichen der französisch-romantischen Schule erliegen mußte. Geniale junge Geister strebten heraus aus dem Schul- und Formelzwang, die ihrem Dichten auferlegt war, und glücklicher als die deutschen Romantiker hatten sie hier einen bestimmten Gegner vor sich, den sie bekämpfen und stürzen konnten, ohne sich dabei in das Nebelhafte und Unklare zu verirren. Als den Hauptrepräsentanten dieser Schule kennen wir den genialen
Victor Hugo
, der heute leider in argen Mißkredit gerathen ist, weil es der alte Mann nicht verlernen kann, im hochfliegenden Pathos seiner Jugend zu reden, und dieses Pathos sich in Bombast und Phrasen verkehrt hat. – Ganz von Byron'schen Ideen erfüllt, flüchtete
Victor Hugo
nicht wie die deutschen Romantiker in das Mittelalter, sondern er griff keck in die Gegenwart hinein, besang in seinen
Orientalen
die Griechenkämpfe, dichtete Oden an Napoleon, und spottete über »den gesalbten König-Priester«. Entscheidend aber waren seine Siege auf der Bühne. Sein
Hernani
gab nicht allein der klassischen Einheitstragödie den Todesstoß, er erschütterte auch die verknöcherten Sprachnormen der Akademie, indem er, und bald auch seine Freunde sich erlaubten, neue Worte und Redewendungen zu schaffen, welche das hohle, klassische Pathos mit einer natürlicheren und wärmer empfundenen Ausdrucksweise zu durchsetzen verstanden. Man erzählt uns, daß noch kurze Zeit vor der Aufführung des Hernani das Wort »chambre« auf der Bühne ein Murmeln erregt habe und Othello von Shakspeare sich nicht halten konnte, weil das Wort »mouchoir« wiederholt darin vorkommt.
In welch wirkungsvoller Weise Béranger neben ihm stand, ein Mann, der nichts für sich begehrte, der seine Lieder sang nach des deutschen Dichters Worten: »Ich singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«, und der doch mit seinen chansons eine Macht repräsentirte, haben wir schon gehört. Selbst der weiche, verschwommene
Lamartine
schlug jetzt kräftiger in die Saiten, und der jugendliche
Alfred de
Musset
ward mit seinen himmelstürmenden und weltschmerzlichen Poesien bald der Abgott der französischen Jugend, sowie er später im Theater durch seine geistsprühenden Proverbes das feinste Publikum entzückte.
Wie die Poesie, so drängte auch die Malerei und Musik heraus aus den klassischen Regeln, und Auber schuf durch seine »Stumme von Portici« ein geradezu revolutionäres Element; das entzückte Theaterpublikum beklatschte in Masaniello einen Volksmann und Helden, wie sie die Wirklichkeit gerade damals in Freitheitskämpfern, wie Pepe, Riego, Ypsilanti thatsächlich erzeugt hatte. – Ernstere und tiefer blickende Geister wurden mächtig angezogen durch den glänzenden Aufschwung, welchen die Journalistik in Frankreich nahm, hauptsächlich durch Louis Courrier, Armand Carrel und eine Menge junger strebsamer
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