Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
das Parteiblatt vom Gesicht, und siehe da: Es war die berühmte Schriftstellerin Anna Seghers. Als der Kulturminister ihr einige Wochen später den Nationalpreis erster Klasse überreichen sollte und mit den Worten «Meine liebe Anna» zur Laudatio anhob, soll die Seghers erwidert haben, für alle Anwesenden deutlich hörbar: «Für dich, Hans, immer noch die alte Sau.»
«Frisch, fromm, fröhlich, frei.» Weht heute beim Turnen noch die Fahne der Freiheit? Mich jedenfalls erinnern die modernen Geräte in den Gymnastikstudios von heute eher an römische Galeeren und mittelalterliche Folterinstrumente – mögen sie auch mit Leder gepolstert sein. Aber eine neugewonnene Freiheit beim Schwitzen und Strampeln gibt es gewiss. Es muss dazu keiner mehr in grauleinerner Turntracht und mit Turnbeutel erscheinen, ganz im Gegenteil. «Das Unvorstellbare, dass Narziss sich einmal in die Hässlichkeit verlieben würde, das hat uns die heutige Sportkleidung geschenkt. Widrig Hautenges, den Leib wie ein Ganzkörperkondom Umspannendes, und formlos Schlabberndes markieren die beiden Generaltendenzen. Die Farben sind stets Nichtfarben, entweder signal-kreischend oder tot und erstickt: giftig pink oder betonblau.» So beschreibt es Martin Mosebach, der den Schrecken des Sports eine eingängige Betrachtung gewidmet hat. Ganze Kaufhäuser, die sich einzig und allein der Körperertüchtigung verschrieben haben, buhlen heute um ihre Kundschaft. Wer ein solches betritt, etwa mit der Absicht, ein Paar Turnschuhe zu erstehen, muss sich fühlen wie ein Außerirdischer, der gerade zum ersten Mal die Erde betritt. Turnschuhe jedenfalls gibt es darin nicht, dafür hochgerüstete Hightechgeräte mit der Anmutung mutierter Leuchtkäfer aus dem brasilianischen Regenwald. Sie tragen klingende deutsche Namen wie GelEnduro 7 Ultra, Speed Star Fade GTX, Free Haven 3.0 und Adifusion MCPolar. Wahrscheinlich würde man in ihnen tatsächlich auch eine Expedition zum Polarkreis oder zum Mars bewältigen können, man darf sie heute aber auch im Büro, in der Oper oder in der Kirche tragen.
«Die Bauchwelle ist keine Weltanschauung», mahnte einst Theodor Heuss, kurz nachdem er zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden war. Aber längst ist, überall in Deutschland und darüber hinaus, aus dem Sport eine Lebensform geworden. Wehe dem, der nicht unablässig dabei ist, etwas «für seine Gesundheit» zu tun. Was einst eine Bekundung staatsgefährdender Freiheit war, ist nun eine omnipräsente Fitness-Diktatur. Ich dachte immer, ich könnte mich heraushalten und mir die Freiheit des Rechts auf Unsportlichkeit nehmen, indem ich mich auf Winston Churchill berufe und dessen Motto: First of all – No Sports! Bis mich ein deutscher Historiker eines Besseren belehrte: Diesen Satz habe der britische Premierminister niemals gesagt. Zeit seines Lebens sei Churchill nicht nur ein glühender Verteidiger der Freiheit gewesen, sondern ein ebenso leidenschaftlicher Reiter, Fechter und Polospieler. Wer weiß, vielleicht wird man ihn eines nicht fernen Tages auch noch als Nacktkletterer oder als Anhänger des Nacktturnens überführen? Also bleibt mir nur, mich an die klugen Worte Bertolt Brechts zu halten: «Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.»
Gemütlichkeit
V on Kindesbeinen an war die Stadt München für den amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe ein Ort der Sehnsucht: Von dort aus waren einst die Vorfahren seines Vaters in die Vereinigten Staaten ausgewandert, und die Erinnerung daran wurde in den Erzählungen der Familie wachgehalten. Im Dezember 1928 reist der angehende Schriftsteller – an seinem großen Roman Schau heimwärts, Engel schrieb er damals noch – zum ersten Mal in die bayerische Hauptstadt. Gleich nach seiner Ankunft begibt er sich ins Hofbräuhaus, mischt sich unter die Menge und bestellt seine erste Maß. Ein Schluck genügt, um festzustellen: «das beste Bier, das ich jemals getrunken habe.»
Bald erfährt er, dass es zu diesem bierseligen Hochgenuss noch eine Steigerung gibt: das alljährliche Oktoberfest auf der Theresienwiese, wo man in den Bierzelten zu Zehntausenden zusammenkomme, um zu feiern und zu trinken. Das will sich Thomas Wolfe auf keinen Fall entgehen lassen: Im September darauf ist er in München zurück. Seine ersten, prägenden Wiesn-Erlebnisse hat er in der Erzählung Oktoberfest festgehalten. Schon auf dem Weg dorthin wirft Wolfe bewundernde Blicke auf
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