Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
die stämmigen Männer in ihren bestickten Festtagslederhosen und die ebenso stämmigen Frauen in ihren leuchtenden Dirndln und spitzenbesetzten Mieder. In die Vorfreude mischt sich Enttäuschung, als er auf das Festgelände kommt. Die Buden und Schaugeschäfte erscheinen ihm zunächst wie eine wenig glanzvolle Version von Coney Island. Aber dann betritt er zum ersten Mal in seinem Leben ein Bierzelt:
«Tausende von Menschen brüllten an den Tischen über ihrem Bier, und Hunderte weitere wälzten sich unentwegt auf und ab und hielten Ausschau nach einer Lücke … Jedermann aß; jedermann trank. Ein mörderischer Hunger, ein Hunger, der keine Besänftigung kannte, der sich alles gebratene Ochsenfleisch, alle Würste, allen Salzfisch auf der Welt einverleiben wollte, packte mich und hielt mich in seinen Klauen. Auf der ganzen Welt gab es nichts als Essen – glorreiches Essen. Und Bier – Oktoberfestbier. Die Welt war ein einziger gewaltiger Schlund …»
Umbraust vom «Zyklon trunkenen Tosens» stellt sich bei ihm das Gefühl wachsender Befremdlichkeit ein: «Die Wirkung dieser Menschenhorden überall in der riesigen und vernebelten Halle hatte etwas beinahe Übernatürliches und Rituelles: Etwas, das zum Wesentlichen eines Volks gehörte, war in diesen Horden beschlossen, etwas, so dunkel und seltsam wie Asien, etwas, das älter war als die alten barbarischen Wälder, etwas, das um einen Altar geschwankt war und ein Menschenopfer dargebracht und verbranntes Fleisch verzehrt hatte. Die Halle erdröhnte von ihrer Stimmgewalt, und sie erschütterte von ihren mächtigen Leibern, und als sie sich so hin und her wiegten, schien es mir, dass nichts auf Erden ihnen widerstehen konnte, dass sie zerschmettern mussten, worauf immer sie trafen, ich begriff jetzt, warum andere Völker sie so sehr fürchten, unversehens wurde ich selbst von einer tödlichen Furcht vor ihnen gepackt, die mir das Herz gefror.»
Bis sich plötzlich die Hand eines neben ihm sitzenden Mädchens um seinen Arm schlingt: «Im Nu waren auch wir alle eingehakt, im Takt schunkelnd, schwankend, singend, im Gleichklang mit dem Geschmetter dieser gewaltigen Stimmen, schunkelnd, schwankend und singend, indes die Kapelle ‹Ein Prosit› spielte … Nun waren alle Dämme gebrochen, hochrot und glücklich einander zulächelnd, fielen wir, als das Stück zu Ende war, mit unseren eigenen Jubelrufen in das laute zustimmende Gegröle der Menge ein. Dann setzten wir uns lachend, strahlend und schwatzend wieder. Und nun gab es keine Fremdheit mehr, es gab keine Barrieren mehr, wir tranken und schwatzten und aßen zusammen, ich lehrte Liter um Liter des kalten und berauschenden Bieres, seine Nebel stiegen mir zu Kopf. Ich war euphorisch und glücklich.»
Ein Prosit der Gemütlichkeit: Was kann das für ein Zauber sein, der im Handumdrehen das bedrohliche Gefühl der Fremdheit in ein rauschhaftes Glücksgefühl verwandelt?
Ach, wie schön ist doch das Leben,
Wenn es schmückt Gemütlichkeit!
Lasst die Stimmen uns erheben,
Dass man hört es weit und breit:
Mit Sing und Sang, mit Kling und Klang:
Ein Prosit der Gemütlichkeit!
Ein Prosit, ein Prosit
der Gemütlichkeit.
So schrieb es einst Ende des 19. Jahrhunderts der Komponist Georg Kunoth nieder, der übrigens gar nicht aus München stammt – ja, nicht einmal aus Bayern, sondern aus Bremen. Jahre, bevor das Prosit der Gemütlichkeit seinen Siegeszug in den Münchner Bierzelten antrat, wurde es bereits in der norddeutschen Hansestadt gesungen: in der Weserlust, den Wallanlagen, im Kaffeehaus Bürgerpark und im Tivoli- Garten.
Riesengroß ist das Dach, unter dem sich wohlige Gemütlichkeit einzustellen vermag: Im heimischen Wohnzimmer vor dem Kamin und bei Kerzenschein hat sie ihren Platz, unter funkelnden Sternen am Lagerfeuer, aber eben auch in einem riesigen Bierzelt unter zehntausend Menschen. Zweifellos handelt es sich um ein durch und durch deutsches Gefühl – in keiner anderen Sprache der Welt gibt es ein Wort dafür, als Lehnwort ist «Gemütlichkeit» unter anderem ins Englische und Französische eingewandert. Ihre Heimat hat sie vorzugsweise im Süden des Landes – aber keineswegs nur in Bayern; ich habe sie auch in Tübingen und in meiner heutigen zweiten Heimatstadt Frankfurt am Main kennengelernt. Und auch den an und für sich flinken und fleißigen Sachsen ist der Hang zur Gemütlichkeit nicht abzusprechen: «Du, wenn ich ä mal bangsionierd bin, da sädz ich mich in ä Schauglschduhl un
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