Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst, und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die dortige Gemütlichkeit und meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in dieser Hantierung.» Die Leute von Seldwyla büßen für ihre «Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit» – und manch anderes mehr – mit frühzeitig einsetzender Entkräftung.
Auch Goethe war überhaupt kein Freund der Gemütlichkeit. Das gesellige Biertrinken verdammte er ebenso wie das Tabakrauchen – das eine wie das andere stumpfe die Nerven ab. «Wenn es so fortgehen sollte, wie es den An schein hat, so wird man nach zwei oder drei Menschenaltern schon sehen, was diese Bierbäuche und Schmauchlümmel aus Deutschland gemacht haben.» Ernst Jünger sekundierte dem Dichterfürsten, als er im deutschen Bier den Hauptgrund für «deutsche Schläfrigkeit» vermutete: «Ein Soldat, der vor dem Sturmangriff einen halben Liter austrinkt, dürfte ein Kuriosum sein.» Er hatte aber auch ein Gegenmittel parat: «Vielleicht wäre es gut, das Bier anstatt mit Hopfen mit Stechapfelkörnern zu bittern oder mit jenen Fliegenpilzen, mit deren Aufgüssen sich der Lappländer bösartige Flugträume verschafft.» Und was die Kunst anbetrifft, wünschte sich Jünger Gemälde mit «Farben wie aus Blut und Galle gemischt auf die Leinwand» gebracht, und eine Literatur, die imstande sei, «Ohrfeigen in das Gesicht der Gemütlichkeit» abzufeuern; deren Helden «sich am liebsten in eine Pistole laden und in die Luft knallen lassen möchten».
Streng fielen auch die Urteile über die Gemälde eines Spitzweg oder eines Ludwig Richter aus: «Über seinen Bildchen liegt der Zauber einer dörflichen Jahrmarktsschau oder kleinstädtischen Nachmittagsvorstellung, jener anheimelnde Duft von Kaffeekanne und Tabakspfeife, wachsbetropftem Tannenbaum und knisterndem Ofenreisig, frischgeplätteter Wäsche und frischgebackenem Kuchen, wie er bei dem Worte ‹Biedermeier› aufsteigt», so Egon Friedell.
Überhaupt, das Biedermeier, war es nicht das goldene Zeitalter des Spießers? Als höchst verachtenswert galt der, der sich ins Private zurückzog, statt mutig auf die Barrikaden zu gehen: «Schau, dort spaziert Herr Biedermeier/und seine Frau, den Sohn am Arm; /sein Tritt ist sachte wie auf Eier,/sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.» Doch der Blick auf jene Epoche hat sich inzwischen grundlegend gewandelt: Man erkennt und bewundert heute in den Bildern und Möbeln der Zeit die schlichte Eleganz und Klarheit der Formen, die sich im Widerspruch zu Prunk, Gold und Purpur ausprägten, wie sie im 18. Jahrhundert vorherrschten. Und doch gibt es immer noch welche, die leichthin einen großen Bogen spannen von der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress zu den Zuständen der späten Bundesrepublik Deutschland der achtziger Jahre. «Gemütlichkeit ist Gebrüll im Winkel, ist die mit Herzen vernagelte Aussicht ins Freie», so das Verdikt Karl-Heinz Bohrers. Soll man ihnen zugutehalten, dass sie gar nicht anders können, als stets mit großer Strenge auf ihr Heimatland zu blicken?
Mir hingegen scheint der deutsche Hang zur Gemütlichkeit als gar nicht so beschränkt wie behauptet, sondern im Gegenteil als etwas durchaus Widerständiges. «Jetzt machen wir uns es gemütlich»: Man muss nur diesen Zauberspruch aufsagen, und schon sind die Rastlosigkeit und die Zumutungen unseres durch und durch ökonomisierten Alltags passé – zumindest für eine Weile. Wer zu so etwas fähig ist, von dem kann man wohl behaupten, er ruht in sich selbst.
Es darf also sehr wohl gemütlich zugehen – und das hat man auch jenseits der Grenzen Deutschlands längst begriffen. Das Münchner Oktoberfest ist so berühmt, dass es auf der ganzen Welt gefeiert wird. Im brasilianischen Blumenau, begründet im Jahr 1850 von einem eingewanderten deutschen Apotheker gleichen Namens, gibt es die «Urwald-Wiesn», zu der Jahr für Jahr 700.000 Besucher strömen. Ausgeschenkt wird das städtische Bier der Brauerei Eisenbahn. Es wird nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut – wie übrigens auch das St. George-Bier, das seit dem Jahr 1916 in meiner Heimat Äthiopien hergestellt wird. Ein Oktoberfest gibt es auch in Taybeh, einem christlichen Dorf im Westjordanland. Das «Taybeh-Bier» der ortsansässigen Brauerei ist alkoholfrei, die muslimischen Bürger sollen auch mitfeiern dürfen. Inzwischen wird es nach Israel, Deutschland und Großbritannien exportiert. Das zweitgrößte
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