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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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noch so striktes Verbot vermochte den Siegeszug des Turnens auf halten, weder in Deutschland noch anderswo.
    Ich möchte aber doch auf einen weiteren Sonderweg hinweisen, den das Turnen hierzulande genommen hat – und zwar seine Liaison mit der sogenannten Freikörperkultur. Zu deren Pionieren gehörten der Maler Karl Wilhelm Diefenbach, dem man aufgrund seines Vegetariertums den despektierlichen Beinamen «Kohlrabi-Apostel» verlieh, und der Autor Richard Ungewitter, der mit zahlreichen Pamphleten und Schriften für die Nacktheit warb. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfreuten sich in Deutschland die gymnastischen Übungen nach dem dänischen Sportler J. P. Müller großer Beliebtheit, der den Titel «der körperlich am besten entwickelte Mann in Dänemark» für sich in Anspruch nehmen konnte. Seine Anleitung zur «Zimmergymnastik» mit dem Titel Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit , erschienen 1904, erreichte hohe Auflagen. Die Übungen, die er darin beschrieb – Rumpfbeugen, Atem- und Muskelübungen, das Reiben und Frottieren des Körpers –, galt es vorzugsweise nackt und am offenen Fenster durchzuführen.
    Zur begeisterten Anhängerschaft des «Müllerns» gehörte der Dichter Franz Kafka, auch er bekennender Vegetarier. Und es war ihm ein Anliegen, seine Schwestern und seine Verlobte von den Vorzügen der Nacktgymnastik zu überzeugen. «Du wirst (denn Du hast es doch versprochen, nicht?) langsam, systematisch, vorsichtig, gründlich, täglich zu ‹müllern› anfangen, mir darüber immer berichten und mir damit eine große Freude machen», schrieb er an Felice Bauer. Die Erzieherin der Familie Kafka staunte nicht schlecht, als sie eines Morgens Kafkas Schwestern «völlig ausgezogen im Zimmer auf dem Teppich» vorfand, wo sie die müllerschen Übungen ausführten. Über seinen Kuraufenthalt in der FKK-Kuranstalt Jungborn im Sommer 1912 schrieb der Dichter ausführlich Tagebuch: «In der Ferne spielen sie Fußball, die Vögel singen stark, einige Nackte liegen still vor meiner Tür. Alles bis auf mich ohne Schwimmhosen. Schöne Freiheit.» Es dauert einige Tage, bis auch Kafka seine Schwimmhose ablegt und sich zum gemeinsamen Ballspielen, Heuwenden, Wandern und «Müllern» unter die Nackten mischt.
    Zurück zur Natur! Diesem Wahlspruch folgte auch der Schriftsteller Hermann Hesse. Allerdings zog er dem Nacktturnen das Nacktklettern vor – im Kalkfels bei Amden über dem Walensee oder bei Arcegno im Tessin. «Die Sonne brannte mir fleißig auf die verwöhnte Haut, die Dornen zeichneten mir ein Netz von roten Schrammen auf die Beine; die Knie und Hüften stieß und ritzte ich mir am Kastaniengestrüpp und an den Felsen wund. Aber ich war fröhlich dabei, ich sang und hatte meine Lust an der wilden, schönen Landschaft. Ich suchte hohe, steile Felskuppen auf, von denen ich senkrecht tief in die warme Meerbläue hinabschauen konnte, ich gab den kühnen Felsformen kühne Namen und freute mich an jedem roten Riss, den meine fahle, weiche Haut bekam. Es waren vergnügte, kindisch vergnügte Stunden.» Auch wenn Hesse für die vergnügten Stunden der Nacktheit im Gebirge gelegentlich mit «Schnupfen, Halsweh und dergleichen» bezahlte, glaubte er doch, dass «eine Regeneration unserer Völker und ihres gesamten Lebens möglich wäre durch Früchtenahrung und Annäherung an das Nacktleben».
    Das «Müllern» mag im Laufe der Jahrzehnte aus der Mode gekommen sein, aber die Freikörperkultur erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit zwischen Isar und Nordsee. Glaubt man den Angaben des Präsidenten des Deutschen Verbandes für Freikörperkultur, zählen heute sieben Millionen Deutsche zu den Anhängern des nackten Badens. Zu Zeiten der DDR, die den Eintritt in das «Reich der Freiheit» über den Umweg der «Diktatur des Proletariats» gehen wollte, galt das Nacktbaden als Demonstration des Widerstandes – jedenfalls nachdem die SED es an den Stränden von Ahrenshoop und anderswo verbieten wollte. Vergeblich – tapfer verteidigten die Nudisten ihr Recht auf Nacktheit. Ob aber die Anekdote stimmt, die man sich über Johannes R. Becher erzählte? Der Schriftsteller und Kulturminister der DDR sah sich als Vorkämpfer gegen die Freikörperkultur und empörte sich regelmäßig über die am Strand der Ostsee herumliegenden Nackten. Als er darunter eine Frau erblickte, die sich mit dem Neuen Deutschland bedeckte, fuhr er sie an: «Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?» Die Frau nahm

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