Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Oktoberfest der Welt findet Jahr für Jahr im chinesischen Qingdao statt, es zählt mehr als drei Millionen Gäste. Ob in Malaysia, Buenos Aires, Sydney, Belgrad oder Oklahoma: Überall auf der Welt hat die bayerische Lebensart Einzug gehalten, spielen Blaskapellen auf, wird in Dirndl und Lederhosen gefeiert und Bier getrunken.
Noch einen Schritt weiter geht die Stadt Jefferson im US-Bundesstaat Wisconsin: Sie feiert alljährlich ihre Gemuetlichkeit Parade und schmückt sich sogar mit dem Beinamen The Gemuetlichkeit City. So hat man im Geiste der guten alten deutschen Gemütlichkeit ein weltumspannendes Band der Völkerverständigung geknüpft:
Woll’n die Sorgen euch erbeuten,
Packt euch Kummer, packt euch Leid,
Dann kommt schleunigst zu uns Leuten
Molligster Gemütlichkeit!
Mit Sing und Sang, mit Kling und Klang:
Ein Prosit der Gemütlichkeit!
Ein Prosit, ein Prosit
der Gemütlichkeit.
Geselligkeit
D er Mensch ist ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes Wesen, wusste schon Aristoteles, der Mensch muss unter die Leute. Dafür haben die verschiedenen Kulturen und Nationen verschiedene Formen und Örtlichkeiten ausgebildet. England zum Beispiel verdanken wir die Erfindung der Clubs, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Der Club ist, angefangen von den studentischen Clubs in Oxford und Cambridge, die Schule des englischen Gentleman und sein vornehmstes Betätigungsfeld. Der Zugang ist reglementiert, wenn es auch heute nicht mehr ganz so strikt zugeht wie einst. Der Travellers Club beispielsweise legte fest, dass seine Mitglieder schon einmal im Ausland gewesen sein mussten, und zwar mindestens 500 Meilen Luftlinie von London entfernt – eine für das 19. Jahrhundert, in dem das Reisen noch um einiges beschwerlicher war, keineswegs selbstverständliche Voraussetzung. Heute wird erwartet, dass ein Mitglied des Travellers Club wenigstens vier Länder bereist hat. Das sogenannte Blackballing, bei dem sämtliche Mitglieder über die Aufnahme eines Kandidaten in geheimer Abstimmung mittels schwarzer und weißer Kügelchen entscheiden, wird heute nirgendwo mehr praktiziert. Ein einziges schwarzes Kügelchen in der Urne genügte, und der Kandidat war durchgefallen. Auch die Praxis, dass die Mitgliedschaft in den Gentlemen’s Clubs ausschließlich Männern vorbehalten war, hat sich inzwischen fast überall geändert. Aber immer noch gilt: Man muss von einem oder mehreren Mitgliedern vorgeschlagen werden, um aufgenommen zu werden.
Was aber zeichnet die Tugenden eines vollendeten englischen Gentleman aus? Harold Nicolson hat dessen Idealbild, wie es sich auf der Höhe des 19. Jahrhunderts darstellte, so beschrieben: Es gehöre zum Gentleman «eine strahlende Natürlichkeit, eine vollendete Selbstsicherheit und eine Gabe für alle Künste des Lebens. Er muss offen und geradeheraus sein, männlicher Gefühlsregungen, ja auch einer gewissen Empfindsamkeit fähig, ferner geschliffen und genau in seinem Ausdruck. Er muss das Landleben verstehen … und an ländlichen Beschäftigungen Gefallen haben. Er soll in der Lage sein, reichlich zu trinken, ohne dass man ihm dies an seiner Aussprache oder an seiner Haltung anmerkt, und wild zu spielen, ohne dabei nach außen die Ruhe zu verlieren. Er muss ein Mensch von Bildung sein, etwas von der Kunst verstehen, die Klassiker korrekt zitieren können, über Vitruv und Bramante Bescheid wissen, die französische Sprache meisterlich beherrschen und sich auf gutes Essen und gute Weine verstehen. Er muss gut gelaunt sein bis zur Laxheit; und wenn er in Zorn geraten sollte, darf dieser sich nicht äußern. Er muss alles Schöne lieben und liebenswürdigen Frauen den Hof machen. Er muss die Tiere lieben und in der Lage sein, sich zwanglos mit Jockeis, Trainern, Fechtmeistern und Boxlehrern zu unterhalten. Nur wenn er leidenschaftlich verliebt ist, darf er sich erlauben, melancholisch zu erscheinen. Sein Lächeln, seine Stimme und jede seiner Bewegungen müssen Ausdruck gemessener Grazie sein. Der Institution der Monarchie soll er den schuldigen Respekt erweisen, doch die Ausgelassenheit des Regenten, seine Höflinge und seine Mätressen mit Nachsicht missbilligen. Niemals darf er die Künstlichkeit der Dandies nachahmen oder sich in der Öffentlichkeit zu elegant gekleidet zeigen … Stets muss er daran denken, dass er einer Vereinigung zur Bewunderung auf Gegenseitigkeit angehört und muss entsprechend bewundern oder sogar schwärmen. Vor allem muss er angenehm sein
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