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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Literaten strömten herbei in die «Dachstube» in der Jägerstraße – ein «idyllisches Durcheinander». Hier ging es zwanglos und geistvoll zu, und vor allem: niemals langweilig. «Ich liebe unendlich Gesellschaft und von je», so charakterisierte sie sich selbst, «und bin davon überzeugt, dass ich dazu geboren, von der Natur bestimmt und ausgerüstet bin. Ich habe unendlich Gegenwart und Schnelligkeit des Geistes, um aufzufassen, zu antworten, zu behandeln. Großen Sinn für Naturen und alle Verhältnisse, verstehe Scherz und Ernst, und kein Gegenstand ist mir bis zur Ungeschicklichkeit fremd, der dort vorkommen kann. Ich bin bescheiden und gebe mich doch preis durch Sprechen und kann sehr lange schweigen und liebe alles Menschliche, dulde beinah alle Menschen.» Mehr braucht es nicht für einen vollkommenen Gastgeber.
    Es war aber dann doch eine zu kurze Blüte des geselligen Salons in Berlin, geführt von jüdischen Frauen, als dass sie eine deutsche Tradition hätte begründen können. Die kosmopolitisch-freigeistige Atmosphäre, die dem Salon Luft und Nahrung gibt, wollte sich in den Zeiten nach den Napoleonischen Kriegen nicht mehr so recht einstellen. Es reicht eben nicht, dass man Leute verschiedenster Couleur an einem Ort zusammenbringt, es muss auch die Bereitschaft vorhanden sein, Herz und Verstand zu kultivieren. Auch das Führen eines zwanglosen Gesprächs versteht sich nicht von selbst. Ludwig Marcuse erzählt in seiner Autobiographie von den Berliner Zusammenkünften, die der Verleger Ernst Rowohlt in den Spätjahren der Weimarer Republik veranstaltete. «An den Sonnabend-Nächten … lud er seine Hof-Kommies und Hof-Nazis, Chauvinisten und Anarchisten zusammen, füllte sie mit viel Bier und viel ‹Moselchen› und ließ sie aufeinander los; er fand es ganz großartig, dass manches in Scherben ging und es (nicht nur metaphorisch) blutige Köpfe gab. Es floss nicht nur literarisches Blut. Von Geist war keine Rede, viel aber von Revolvern, es wurde nicht gestritten, man verbiss sich ineinander … Ich war in Versuchung, das alles (wie Rowohlt) für des Lebens grünen Baum zu halten, aber gegen Morgen nahm mich dann der solide Wirtschafts-Theoretiker Alfons Goldschmidt unter den Arm, zu einem ernüchternden Spaziergang durch den aufwachenden Tiergarten; er trieb mir das Theater aus dem Schädel und gab mir einige nützliche Lektionen: Denken Sie nicht, sagte er, dass wir heute im Salon der Rahel Levin saßen, die zu ihrer Zeit ebenso radikal mixte wie unser Rowohlt jetzt: Ghetto-Juden mit preußischen Generalen zusammenbrachte und frivole Literaten mit Superintendenten. Das war damals ein Durchbrechen sozialer Schranken; was wir aber erleben, ist die Annäherung von Pulver und Feuer; denn der Knall, der Löcher in Menschen-Fleisch reißt, ist die große Mode des Tages.»
    Der Mensch muss unter die Leute, auch wenn es eine Obrigkeit gibt, der dies suspekt sein mag. Nachdem im Jahre 1819 in Preußen und den meisten anderen deutschen Staaten neben den politischen Vereinigungen auch die Burschenschaften und Turnvereine verboten wurden, sprossen überall neue Vereine, allen voran Schützen-, Wander-, und Gesangvereine aus dem Boden. Der Verein als solcher gilt heute manchen als etwas Miefig-Reaktionäres. Den meisten, die so denken, ist aber gar nicht bewusst, dass es im Schutze des Singens, Wanderns und Schießens meist auch um Freiheit und Mitbestimmung ging. Das gilt übrigens auch und besonders für den Schützenverein: Dort sammelten sich oft sogar die liberalsten Kräfte. Wer auf dem Festplatz schoss und feierte, forderte damit die Obrigkeit heraus. Wer nach einer Verfassung rief und nach einem vereinigten Deutschland, der war vom «nationalen Hund gebissen» und höchst verdächtig. Das Schießen und Singen aber ließ man sich nicht verbieten, und als in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Arbeiterbewegung aufkam, formierten sich schon bald auch die ersten sozialdemokratischen Gesangvereine, die sich Namen wie «Freiheit» oder «Vorwärts» gaben.
    «Ich möchte nicht in einem Club oder Verein sein, der mich als Mitglied aufnimmt», schrieb der Komiker Groucho Marx in einem Telegramm, in dem er seinen Austritt aus dem Friar’s Club in Beverly Hills erklärte. Es gibt wohl nicht sehr viele Deutsche, die diesen Satz unterschreiben würden. Rund 600.000 Vereine gibt es heute hierzulande, keiner weiß die genaue Zahl. Der mit Abstand größte ist der Allgemeine Deutsche Automobil-Club,

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